Optimum - Kalte Spuren
hindurch in den Gang und sickere langsam in ihr Bewusstsein.
Rica griff unwillkürlich nach Robins Hand. Er umschloss ihre Finger mit den seinen und drückte leicht zu. Als sie aufsah, um in sein Gesicht zu blicken und sich Mut zu machen, erkannte sie, dass er mindestens genauso große Angst hatte wie sie selbst. Und als sie Nathan und Saskia ansah, bemerkte sie die gleiche Angst und Sorge auch bei ihnen. Also bilde ich mir das nicht nur ein. Es ist wirklich etwas nicht in Ordnung.
Als sie die Tür erreicht hatte, blieb sie stehen und starrte die Klinke an, als sei es eine Schlange, die sie jeden Moment beißen konnte. Die Stimmen hinter dem Holz waren inzwischen so laut und durcheinander, dass Rica keine einzelnen Worte daraus verstehen konnte. Sie warf noch einmal einen unsicheren Blick zurück über ihre Schulter, dann streckte sie kurz entschlossen die Hand aus und drückte die Klinke herunter.
Die Tür schwang auf.
Der Raum dahinter glich einem Hexenkessel, und sobald sie ihn betreten wollte, brach die Hölle los. Rica konnte gar nicht mehr schnell genug reagieren, da fielen sie auch schon über sie her.
»Da sind sie !« , war der erste Ruf, mit dem Rica empfangen wurde. »Da sind sie! Schnappt sie euch! Lasst sie nicht entkommen !«
Alles, was sie sah, waren Gesichter. Wütende Gesichter. Obwohl vielleicht nur zehn, zwölf Schüler im Raum waren, hatte Rica das Gefühl, sich einer aufgebrachten Menschenmenge gegenüber zu sehen. Zornige Augen hatten sich auf sie gerichtet. Finger zeigten auf sie. Münder öffneten sich anklagend. Stimmen schrien.
»Mörder !«
»Wahnsinnige !«
Leute stürmten auf sie zu. Plötzlich war sie von anderen Schülern umringt. Erbarmungslos wurde sie zurückgedrängt, gegen die Wand des Ganges gestoßen und dagegengepresst. Hände griffen nach Rica, krallten sich in ihre Kleidung, rissen an ihren Haaren. Körper drängten sich so eng an sie, dass sie beinah keine Luft mehr bekam. Rica rang nach Atem, versuchte zu schreien, versuchte, die anderen um sie herum wegzustoßen, aber es kamen immer neue nach.
»Was habt ihr mit Frau Friebe gemacht ?«
»Das soll euch eine Lehre sein !«
»Bringt sie zu Torben .«
»Wir sollten ihnen richtig wehtun .«
Schon vor einer Ewigkeit, so kam es Rica vor, hatte sie Robins Hand verloren. Sie konnte auch nicht erkennen, wo er sich befand. Sie konnte keinen der anderen sehen oder hören, alles, was sie wahrnahm, waren wütende Gesichter und wütende Stimmen. Und die grässliche Hitze und die Atemnot. Immer weiter wurde sie gegen die Wand gepresst, ein scharfer Schmerz durchzuckte ihren Brustkorb, und sie glaubte, ihre Rippen brechen zu spüren.
Ich werde zerquetscht!
Rica schloss die Augen und war kurz davor, sich ihrem Schicksal zu fügen. Dann ist wenigstens alles schnell vorbei, und ich kann mich endlich ausruhen. Doch dann trat ihr jemand schmerzhaft auf den Fuß – ein schwerer Stiefel gegen ihren einfachen Turnschuh –, und der stechende Schmerz, der ihre Zehen durchfuhr, brachte sie wieder zur Besinnung. Mit einem Schrei stieß sie sich von der Wand ab. Unter einem ihrer Ellbogen spürte sie etwas Weiches und rammte zu. Ihr war es egal, was sie traf, egal, ob sie vielleicht bleibenden Schaden anrichtete, sie wollte nur noch hier raus.
Jemand schrie auf, der Druck ließ für einen Moment nach, und Rica warf sich noch mal vorwärts. Um sie herum nur gedrängte Leiber, Menschen überall, sie umgaben sie, nahmen ihr die Luft zum Atmen, wollten sie zerquetschen, zermalmen, zerstören. Rica schrie und schlug um sich. Sie unterschied nicht mehr zwischen Gesichtern, nur zwischen Enge und Freiheit. Sie schlug, boxte, trat und biss. Und sie traf dabei. Schreie um sie herum, ihre Finger gruben sich mehr als einmal in weiches Fleisch, der Geschmack von Waschmittel füllte ihren Mund. Immer noch wollten die anderen nicht verschwinden. Immer noch drängten sie sich nahe und immer näher. Rica wurde zusammengedrückt, die Arme an ihren Körper gepresst. Fingernägel kratzten über ihre Wangen. Schwarze Flecken begannen, vor ihren Augen zu tanzen, die Gesichter der nächsten Schüler waren nur noch verschwommen zu erkennen. Ihr wurde schwindelig. Sie verlor den Halt, versuchte noch, sich auf den Beinen zu halten, und stürzte auf Hände und Knie, zwischen Dutzende, nein Hunderte von Beinen.
Und hier endlich hatte sie Luft. Hier endlich konnte sie wieder etwas erkennen, ein Stück freien Ganges zwischen ihr und einer einfachen Holztür.
Der
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