Optimum - Kalte Spuren
Hinterausgang. Ganz nah.
Über ihr brüllten die Schüler immer noch, einige bückten sich, und versuchten, sie zu packen und auf die Füße zu ziehen, doch dieses Mal reagierte Rica schnell genug. Sie begann zu krabbeln. Füße traten nach ihr, Hände griffen in ihre Haare und zogen, aber Rica riss sich los, wand sich zwischen den vielen Beinen hindurch, und auf einmal war sie frei. Nur eine kurze Strecke lag zwischen ihr und der Hintertür. Rica kam auf die Füße und sprintete los, ohne weiter nachzudenken. Ein eisiger Windhauch schlug ihr entgegen, als sie die Tür aufriss. Es war ihr gleich. Sie musste einfach nur weg hier. Raus. Rica stürmte geradewegs in das Schneetreiben hinein, ohne sich noch einmal umzusehen.
Sie rannte. Die Landschaft um sie herum verschwamm. Rica hatte das Gefühl, nicht mehr klar denken zu können, und mit ihrem Verstand schien sich auch ihr Sehvermögen verabschiedet zu haben. Alles um sie herum erinnerte sie an ein altes Schwarzweißfoto. Helle und dunkle Flächen, verschwommen vor dem Abendhimmel. Schnee drang durch ihre Turnschuhe, und ihre Socken waren binnen kürzester Zeit vollkommen durchnässt. Die Kälte biss sich durch ihr Sweatshirt und die Jeans, aber Rica spürte sie kaum. Hauptsache sie kam fort.
Irgendwann merkte sie, dass die Stimmen hinter ihr verklungen waren. Gleich darauf wurde ihr klar, wie erschöpft sie war. Ihre Beine schmerzten vom Laufen, und ihr Atem ging schwer. Rica kam taumelnd zum Stehen, beugte sich vornüber und stützte die Hände auf den Knien ab. Jeder tiefe Atemzug brannte in ihrer Kehle, ihre Augen waren feucht, ihre Wangen eiskalt. Es fühlte sich so an, als ob im nächsten Moment ihre Finger und Zehen abfielen.
Aber sie war in Sicherheit.
Die Enge, die vielen Menschen, all das war verschwunden. Rica war sich nicht sicher, ob die Tränen in ihren Augen noch von der Angst oder schon von der Erleichterung herrührten. Am liebsten hätte sie gejubelt, wären da nicht die anderen gewesen.
Die anderen.
Nathan, Robin, Saskia. Eliza. Sie waren im Haus zurückgeblieben. Hatte keiner von ihnen es zum Hinterausgang geschafft?
Rica richtete sich langsam wieder auf. Scharfe Stiche durchzuckten ihre Seite bei jedem Atemzug, doch sie versuchte, sie zu ignorieren. Sie blinzelte die Tränen fort, wischte sich mit dem Handrücken die Augen und sah sich um. Sie war gar nicht so weit gelaufen, wie sie zuerst gedacht hatte. Das Haus lag ein Stück über ihr am Hang, halb verdeckt durch eine Baumreihe. Rica konnte ein paar Fenster im oberen Stockwerk gelblich durch die Dämmerung leuchten sehen, der Aufenthaltsraum war immer noch durch dicke, hohe Schneewehen verdeckt.
Du solltest zurückgehen. Du solltest nachsehen, wie es den anderen geht. Man lässt seine Freunde nicht einfach so im Stich.
Rica starrte den Hang hinauf. Sie wusste, was sie tun sollte, aber ihre Beine wollten sich einfach nicht bewegen. Zurück zum Haus hieß zurück zu den anderen, zu dem Mob, zu der Enge, zur Angst. Das konnte sie einfach nicht. Nie im Leben. Aber sie musste den anderen auch helfen.
Rica saß zitternd im Schnee und wusste wirklich nicht mehr, was sie machen sollte.
Kapitel siebzehn
Angst
Die Bilder verschwammen langsam und machten einem sanften, hellen Licht Platz. Eliza mochte das Licht. Zum ersten Mal seit langer Zeit wurde sie nicht mehr von ihren Erinnerungen und den Bildern gequält. Sie hätte stundenlang daliegen können und sich von dem Licht bescheinen lassen. Wenn da nicht die Stimme gewesen wäre.
»Bist du wach ?«
Eliza blinzelte. Das angenehme, warme Licht verwandelte sich in ein grelles Leuchten, das ihr in die Augen stach. Am liebsten hätte sie die Augen gleich wieder geschlossen, aber da war noch die dunkle Gestalt vor dem hellen Lichtschein.
»Bitte, wach auf. Es ist wichtig .« Die Stimme kam ihr vage bekannt vor, eine Stimme, mit der sie viel Gutes verbunden hatte. Jedenfalls früher einmal. Wieder blinzelte sie, dieses Mal allerdings vorbereitet auf das helle Licht. Langsam klärte sich ihre Sicht.
Sie lag im Bett in einem schmalen, holzgetäfelten Zimmer, an das sie keine besonderen Erinnerungen hatte. Sie brauchte einige Momente, bis sie darauf kam, dass sie sich wohl immer noch in den Skiferien befand. Stimmt. Hatten sie da nicht solche Zimmer gehabt?
»Bist du wach ?« , wiederholte die Stimme. Dieses Mal klang sie schon wesentlich ungehaltener.
Eliza richtete sich langsam auf. Für einen Moment wurde ihr schwindelig, dann klärte sich
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