Opus 01 - Das verbotene Buch
Gebräuche.
Verwundert sann Amos dieser Erinnerung hinterher. Sie war ganz plötzlich aufgetaucht, wie so viele Geschehnisse aus seiner Vergangenheit in den letzten Tagen in ihm wach geworden waren – als ob sie in jener Brandnacht mit seinen Eltern und all ihren Habseligkeiten unter Asche und Trümmern begraben worden wären. Doch nun fegte ein Sturm die Trümmer hinweg und legte alles, was damals verschüttet worden war, wieder frei.
Schimpfend lief unterdessen Josepha zwischen Stube und Speisekammer hin und her. Nach und nach tischte sie eine halbe Räucherwurst, einen Laib duftend frisches Brot und einen Krug Wasser auf. Der alte Hubertus aber stand starr am Fenster und schaute hinaus, so als ob er befürchtete, dass jeden Augenblick der Inquisitor mit seinen Purpurkriegern hier erscheinen würde.
»Hubert«, sagte Amos, »setz dich doch zu uns.« Der Alte wandte sich zögernd um. »Beantworte mir ein paar Fragen – bitte«, fuhr Amos fort. »Umso schneller seid ihr uns wieder los. Wir nächtigen im Stall und reiten beim ersten Morgengrauen weiter.«
Widerstrebend kam Hubert herbeigetrottet und setzte sich ihnen gegenüber an den Tisch. Amos schnitt für Klara und sich selbst Brot und Wurst ab und begann, gierig zu essen und zu trinken. Er war so müde, dass sich sein Kopf und sein ganzer Körper wie taub anfühlten, aber mit jedem Bissen und jedem Schluck kehrten seine Lebensgeister ein wenig mehr zurück.
»Hubert«, sagte er und sah den ältesten Vertrauten seines Vaters eindringlich an. »warum mussten meine Eltern sterben?«
Der Alte schüttelte so heftig den Kopf, dass die lose Haut an seinen Wangen und unter dem Kinn schlackerte. »Das weiß bis heute niemand«, murmelte er.
»Ich war sieben oder acht Jahre alt«, sagte Amos, ohne ihn aus den Augen zu lassen, »da besuchten uns etliche würdevolle Herren mit grauen Haaren. Erinnerst du dich daran?«
Der alte Gutsvogt starrte ihn an und seine Kiefer bewegten sich längere Zeit nur auf und ab wie bei einem mümmelnden Kaninchen. Schließlich nickte er. »Oh ja, wie könnte ich das je vergessen.« Er faltete die Hände vor sich auf dem Tisch. »Sie wollten Euch holen, junger Herr, und Euer Herr Vater war auch schon halb gewonnen für diesen Plan – aber Eure Frau Mutter wollte Euch nicht ziehen lassen und schrie und weinte.«
Er war mit jedem Wort lauter geworden, um seine Frau zu übertönen, die hinter ihm am Herd stand und warnende Zischlauteausstieß. Die letzten Wörter kamen fast schreiend heraus, und seine Hände waren nun nicht mehr gefaltet, sondern zu Fäusten geballt.
»Wer waren diese Männer, Hubert? Und was wollten sie gerade von mir?«
Wieder schwieg der alte Gutsvogt lange und starrte Amos aus trüben Augen an. »Ihr sollt alles erfahren, was ich weiß, Herr«, stieß er endlich hervor.
8
U
nter dem dünnen grauen Haar
sah der Schädel des alten Mannes hervor, mit rußschwarzen Malen gesprenkelt. In Amos’ Erinnerung war Hubertus ein starker, groß gewachsener Mann gewesen, doch nun schien er durch Alter und Angst regelrecht eingeschrumpft.
»Was ich weiß, ist wenig genug, Herr«, hob der Gutsvogt an, »und Ihr habt ein Recht darauf, es zu erfahren. Vielleicht kann ich sogar ein wenig von meiner Seelenruhe wiedergewinnen, wenn ich Euch die Geheimnisse offenbare, die seit Jahren wie ein Mühlstein auf mir liegen.«
Josepha begann wieder zu zischen.
»Wo soll ich beginnen?«, fuhr ihr Mann mit erhobener Stimme fort. »Am besten wohl beim alten Herrn Kasimir, Euerm Großvater. Ich selbst habe ihm damals noch als Burgvogt gedient – bis anno 1484, als vielerorts im Kaiserreich bereits die Scheiterhaufen brannten.«
Die hagere Alte am Herd zischte nun so laut wie ein ganzes Schlangennest, aber Hubertus wandte sich nur kurz zu ihr um und schüttelte den Kopf. »Sei so freundlich, Josepha, und hole aus dem Gesindehaus ein Hemd und auch ein Wams für Herrn Amos. Die Sachen von Franz müssten ihm ungefähr passen – Franz ist unser jüngster Knecht«, fuhr er, zu Amos gewandt, fort.
Amos lächelte ihm zu. »Ich werde niemals vergessen, dass du und Josepha mir geholfen habt.« Er war Hubertus dankbar und gleichzeitig ein wenig verlegen – halb nackt und zerschunden, mit einer Pferdedecke über den bloßen Schultern, war er mit Klara hier hereingeplatzt und bedrängte den alten Mann mitten in der Nacht mit seinen Fragen.
»Immer nur aus Angst zu schweigen, hilft am Ende auch nicht weiter«, sagte Hubert. »Man wird nur zu seinem
Weitere Kostenlose Bücher