Opus 01 - Das verbotene Buch
ihre Gesänge und Weisheitslehren sowie Offenbarungen über ihre magischen Künste enthielten, außerdem sämtliche Zauberdinge, die für Beschwörung und Alchimie, Zukunftsschau und Zwiegespräche mit übernatürlichen Mächten jemals in Gebrauch gewesen waren. Wie die Schwarzkünstler im Labor große Mengen an Metallen und Pulvern zu einem Destillat von einigen Tropfen einkochen, das in einer winzigen Phiole Platz findet – so wollten sie in einem einzigen schmalen Bändchen alles destillieren, was ihnen der Überlieferung wert schien.« Ein sinnendes Lächeln flog über sein Antlitz. ›Denn die wahre Schwarzkunst von heute‹, so habe ich es den alten Herrn oftmals predigen gehört, ›ist nicht mehr die Alchimie, sondern der Bleidruck mit beweglichen Lettern, der uns die Verbreitung unserer Fibel im ganzen weiten Reich erlaubt.‹ Das Werk sollte
Buch der Geister
heißen und der geheime Orden der Geistesbrüder, der daran arbeitete, hieß Opus Spiritus oder Geistwerk.«
Als hätte er damit alles oder sogar zu viel offenbart, brach Hubertus unvermittelt ab und wollte vom Tisch aufstehen.
»Eine Frage noch«, sagte Amos schnell. Vor Müdigkeit drehte sich in seinem Kopf längst alles im Kreis. Aber er würde nicht ausdieser nach alter Asche stinkenden Stube gehen, bevor Hubert ihm diese eine Frage noch beantwortet hätte.
Der Alte sank widerstrebend auf seinen Schemel zurück. Amos sah ihn an und sein Mund wurde mit einem Mal trocken.
»Warum ich?«, fragte er.
Hubertus begann aufs Neue zu mümmeln wie ein Kaninchen.
»Warum, Hubert?«, beharrte Amos. »Sag es mir, ich spüre ja, dass du die Antwort kennst. Warum wollten sie mich damals holen? Warum war mein Vater, wie du sagst, für diesen Plan schon gewonnen? Was sollte ich überhaupt für sie machen – ein Kind von sieben Jahren?«
»Viele Fragen«, murrte der Alte.
»Aber sie gehören alle zusammen. Ich beschwöre dich, Hubert, als den ältesten Vertrauten meines Vaters – sage mir, was du weißt.«
»Kaum mehr als nichts.« Hubertus hatte seine Hände wieder zu Fäusten geballt und vor sich auf den Tisch gelegt. »Ihr wart ein ganz besonderes Kind, Herr Amos. Ihr selbst werdet Euch kaum daran erinnern – solcherlei Gaben zeigen sich in den allerersten Jahren und werden dann für lange Zeit wieder unsichtbar.«
»Was für Gaben?«, fragte Amos. Sein Mund fühlte sich an, als ob er Staub geschluckt hätte.
»Wundersame Gaben«, murmelte der Alte. »Als ganz kleiner Knabe von nicht einmal zwei Jahren konntet Ihr spüren, ob jemand eine unheilbare Krankheit in sich trug. Man legte Euch in seine Arme, und wenn Ihr Euch unter Tränen sträubtet und nichts anderes wolltet, als rasch wieder von ihm wegzukommen, so war er dem Tod geweiht. Euer Vater stellte Euch mehrmals auf die Probe und kein einziges Mal leitete Euer kindliches Gespür Euch fehl.«
»Jeder, auf dessen Arm ich nicht bleiben wollte, starb?«
Hubertus kniff die wässrigen Augen zusammen. »So klingt es fast, als hättet Ihr den bösen Blick besessen. Aber das war es nicht – auch wenn Eure Eltern sich nach Kräften bemühten, EureGabe zu verheimlichen. Genauso wie Eure zweite wundersame Fähigkeit – als ganz kleiner Knabe konntet Ihr Quellen und Wasserläufe tief in der Erde erspüren. Man brauchte Euch nur irgendwo auf den Erdboden zu setzen und ein wenig zu warten – dort, wo man Euch später im Zustand größten Behagens vorfand, musste es unfehlbar einen unterirdischen Quell oder Fluss geben. Doch diese Fähigkeiten verloren sich wieder – oder schlummerten jedenfalls wieder ein –, gerade als wir Euer drittes Wiegenfest begangen hatten. Glücklicherweise, sollte ich hinzufügen – denn eben um diese Zeit, im 1487. Jahr des Herrn, kam das Handbuch der Hexenjäger heraus. Der Malleus maleficarum , auch bekannt unter dem Namen Hexenhammer , in dem neben vielen anderen auch die Gaben des eindringenden Blicks und des Wasserfühlens als Teufelskünste angeprangert werden.«
Jetzt war es Amos, der sein Gegenüber nur schweigend ansah. Das Opus Spiritus und die Geistesbrüder von Großvater Kasimir – es erklärte zumindest das geheime Wappen auf dem Erbschwert unter dem Palas von Burg Hohenstein. Und er selbst sollte einst ein ganz besonderes Kind gewesen sein – mit magischen Gaben schon als winzig kleiner Knabe. Er versuchte, sich darüber klar zu werden, was all diese Neuigkeiten bedeuteten, aber vor übergroßer Müdigkeit konnte er kaum mehr nachdenken. Und als er Klara
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