Opus 01 - Das verbotene Buch
fragen, woher sie kamen und wie sie überhaupt zu Wächtern von Rogár geworden waren.
Nein, ganz bestimmt nicht. Zuerst war ich auch ziemlich überrascht, weil ich sie verstehen konnte. Aber so erstaunlich ist das wohl gar nicht – es zeigt nur, dass es Kronus wirklich geschafft hat, die alten Künste in seinem Buch zu destillieren. Aber warum du von ihrer Unterredung nichts mitbekommen hast, verstehe ich immer noch nicht.
Es muss mit dem Muster auf dem weißen Pferd zu tun haben, du weißt schon. Und vielleicht gibt es ja noch mehr solcher Unterschiede zwischen den Geschichten, wie Mutter Sophia sie mir damals vorgelesen hat und wie sie nun im
Buch der Geister
stehen . Sie schob sich näher zu ihm heran. Aber wenn wir einander nun ein wenig herzen und streicheln, liebster Amos – das verstößt doch nicht gegen deine Novizenregel?
Amos spürte ihren schlanken Leib, der sich an ihn schmiegte, und die Wärme ihrer Lippen, die beinahe schon seinen Mund berührten. Leider doch, Klara , antwortete er voller Bedauern und rückte handbreit von ihr fort. Ein bisschen müssen wir uns noch in Geduld üben – aber ich fühle, dass ich bald schon bereit sein werde, die dritte Stufe zu meistern .
Er rief es ihr mit erhobener Gedankenstimme zu, um die Rufe der Nachtvögel draußen zu übertönen – und das Rauschen der Begierde in ihrer beider Leiber,
Llóma
.
7
I
m ersten Morgenlicht
schimmerte das Laub der mächtigen Buchen in zartem Grün. Wieder hatte Karols zauberkräftiger Stock ihnen den Weg hier herauf gebahnt – in eine andere Welt, dachte Amos, ohne zu begreifen, was für eine Welt das sein sollte. Die beiden Wächter erwarteten sie bereits am Rand des Hains. Amos legte die Hände vor seiner Brust zusammen und deutete eine Verneigung an, wie er es gestern bei ihnen beobachtet hatte. Wir sind gekommen, um Karol zu sehen.
Du meinst – den edlen Garbún. Die junge Wächterin zeigte wieder ihr schwermütiges Lächeln. Setzt das hier auf. Sonst dürft ihr nicht weitergehen.
Sie nahm den Hut von ihrem Kopf und reichte ihn Klara. Der männliche Wächter folgte ihrem Beispiel und reichte Amos seinenHut. Erstaunt sah Amos, dass sie darunter genau die gleichen Kopfbedeckungen noch einmal trugen.
Sie wechselten einen Blick und zogen die kegelspitzen Hüte auf. Keine Ahnung, wofür das gut sein soll, dachte Amos, aber seine Neugierde war stärker als sein Argwohn.
Folgt uns nun zum sehenden See , befahl der Wächter.
Ohne ihre Zustimmung abzuwarten, wandten die beiden sich um und eilten den Buchenhain hinauf. In ihren rehbraunen Ledergewändern sahen sie wie Gestalten aus einer anderen Welt aus. Einer Welt vielleicht, die vor unvorstellbar langer Zeit versunken und dann in Träumen wiederauferstanden war. Aber allem Anschein nach waren es keine Traumgestalten, die da vor ihnen kraftvoll ausschritten, sondern wirkliche Menschen wie sie selbst. Mit nackten Füßen und muskulösen, sonnenverbrannten Beinen, die unter kunstvoll gesteppten Säumen hervorsahen.
Erlaubt mir eine Frage . Amos ergriff Klaras Hand und beeilte sich, zu ihren Führern aufzuschließen. Wie seid ihr zu Wächtern dieses Ortes geworden?
Die beiden wechselten einen raschen Blick. Ihre Mienen wurden mit einem Mal abweisend.
Darüber haben wir zu schweigen gelobt. Die Wächterin schob sich eine schwarze Locke unter den breitkrempigen Hut.
Haare wie meine, dachte Amos wieder. Im hellen Morgenlicht sah sie ihm noch sehr viel ähnlicher als gestern, wie sein weibliches Ebenbild. Ebenso glich der männliche Wächter Klara bis aufs Haar. Seine grünen Augen, die helle, fast durchsichtige Haut. Amos konnte überhaupt nicht aufhören, die beiden anzustarren.
Und auch über alles andere hier in Rogár müssen wir schweigen. Der Wächter sah Klara an und schien erst nach einigen Augenblicken zu bemerken, dass sie seine Worte nicht mitbekommen hatte. Doch er zuckte nur lächelnd mit den Schultern und beschleunigte aufs Neue seine Schritte. Euch bleibt wenig Zeit .
»Zeit wofür?«, fragte Amos. Das abweisende Verhalten der beiden fing an, ihn wütend zu machen. »Warum siehst du Klara so ähnlich?«
Die Wächter blieben unvermittelt stehen und wandten sich zu ihnen um. Sie legten sich jeder eine flache Hand vor den Mund und schauten sie darüber hinweg eindringlich an. Schweigt still, Fremde. Wollt ihr den Zorn der Geister zu spüren bekommen? Sie dürfen unter keinen Umständen durch Zungensprache aufgestört werden.
Amos hob beschwichtigend eine
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