Opus 01 - Das verbotene Buch
gleichwohl noch immer fortbestand? Amos’ Gedanken wirbelten beinahe so schnell wie das Floß auf dem See. Seit die Wächter den Leichnam heruntergenommen und das Floß in den See zurückgestoßen hatten, beschrieb es nicht mehr jene unruhige Sternbewegung, sondern drehte sich inmitten des Sees und der Säule aus Licht rasend schnell um sich selbst.
Schließlich verstummte das Wehklagen der Wächter. Der Puppenspieler war nun gänzlich mit den schlammgetränkten Tüchern umwickelt. Auch sein Kopf war ganz und gar in triefend rote Tuchfetzen gehüllt, weder Augen noch Nase schauten hervor.
Zwei Wächter holten eine hölzerne Trage herbei, die sie unweit am Ufer bereitgehalten hatten, zwei weitere nahmen den Leichnam bei Armen und Beinen und betteten ihn sanft darauf. In völligem, auch innerlichem Stillschweigen ordneten sie sich zu einem Trauerzug, mit dem Leichnam und den beiden Trägern vorneweg, denen die anderen Wächter paarweise folgten.
Amos hatte die weinende Klara wieder bei der Hand genommen und schlängelte sich mit ihr in den stummen Zug, gerade hinter dem Jüngling und der jungen Frau, die ihnen so ähnlich sahen. Langsam ging es die Stufen wieder hinauf zum Felsspalt. Amos platzte beinahe vor Wissbegierde. Die feierlich-wehmütige Stimmung schlug auch ihn in ihren Bann, aber gleichzeitig überlegte er immer wieder, was das alles hier zu bedeuten hatte. Was die Wächter sich von dem ganzen Ritual versprachen und wieso es einen solchen heidnischen Hain im Jahr 1499 A. D. überhaupt noch geben konnte, mitten im christlichen Europa. Und gerade als die Träger den Leichnam durch die Öffnung schoben, hielt er es vor Neugier nicht länger aus.
Sieben Mal sieben Tage, fragte er die beiden Wächter vor ihm – heißt das, dass er bis dahin noch zu den Lebenden zurückkehren kann?
Sie wandten sich zu ihm um, die Gesichter wie verfinstert von heiligem Zorn. Schweig, Fremder! Wir trauern und nehmen Abschied.
Aber ich habe so viele Fragen! Er durfte sich von ihnen nicht einfach zurückweisen lassen, er musste zumindest versuchen, ihnen ein paar Antworten zu entlocken. Die Bücherjäger verfolgen uns auf Leben und Tod. Wenn ihr uns nicht weiterhelft, werden sie uns töten und
Das Buch der Geister
zerstören .
Die Wächterin, die wie sein eigenes weibliches Abbild aussah, zuckte zusammen. Das Buch … ?
Doch der männliche Wächter fuhr dazwischen: Nicht hier. Nachher begleiten wir euch aus Rogár hinaus – dann können wir reden .
Seine Begleiterin sah ihn missbilligend an. Soweit eure Fragen nicht unser Schweigegebot berühren .
Ich danke euch von Herzen. Amos lächelte die beiden an, aber ihre Gesichter blieben abweisend.
Nacheinander kroch der ganze Zug durch den Felsspalt zurück an die Erdoberfläche. Zu Amos’ Erstaunen war der Tag schon weit fortgeschritten – die Sonne sank bereits wieder, es musste spät am Nachmittag sein. Er konnte sich gar nicht erklären, wo all die Stunden geblieben waren – hatten sie wirklich einen ganzen Tag lang am Seeufer gekauert, den Leichnam beweint, Tuchbahnen in rotem Schlamm getränkt? Oder verlief die Zeit dort drinnen anders, am Ufer des sehenden Sees?
Tief in Gedanken folgte er dem Zug der Trauernden, der sich neuerlich formiert hatte und nun auf den oberen Saum des Buchenhains zuhielt.
Llóma – fárá – móhagár
.
Deine Güte, edler Garbún, war wie Sonnenlicht, das den Geist erhellt und die Herzen wärmt.
Leben – vergehen – im Kreis.
Unter den mächtigen Magiern warst du einer der weisesten. Unter den Weisen einer der bescheidensten Meister, edler Garbún.
Zauberisch in die Welt gewoben, durch den Willen der Geister wieder herausgezogen, edler Garbún.
Llóma – fárá – móhagár
Unter einer mächtigen Buche blieben die Leichenträger stehen. Von einem Ast hoch oben in der Baumkrone hingen die beiden Enden eines langen Seils herab. Sie setzten ihre Trage ab, und der eine Wächter richtete den Leichnam auf, während der andere ihm das Seil unter den Armen festband. Im nächsten Moment begannen sie schon, den toten Puppenspieler am Seil emporzuziehen, und währenddessen brachen alle Trauernden neuerlich in Wehklagen aus.
Ohne in ihren Anrufungen nachzulassen, kletterten nun sämtliche Wächterinnen und Wächter, außer jenen beiden, die den Leichnam am Seil emporhievten, mit katzenhafter Raschheit an dem gewaltigen Baum hinauf. Und just in dem Augenblick, als die ersten Wächter oben im Wipfel ihre Hände dem emporschwankenden
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