Opus 01 - Das verbotene Buch
nicht anders. Aber auch wenn Kronus noch leben sollte – wenn er gefangen und vielleicht halb tot ist – wie könnte er uns Karol geschickt haben?
Genauso, wie es Mutter Sophia bei dir gemacht hat.
Sie hatte ihm erzählt, wie es ihr damals ergangen war: Just an jenem Tag, als er von Kronus nach Nürnberg geschickt worden war, hatte sie von Mutter Sophia aus dem Inquisitionskerker eine Gedankenbotschaft erhalten. Die Äbtissin hatte sie genauestens unterrichtet, wie sie ihn erkennen konnte und wie sie vorgehen sollte, um ihm zum Schein den Briefumschlag abzujagen. Es erstaunte Amos immer wieder, wenn er an diese Geschichte dachte. Das alles musste bis ins Kleinste zwischen Mutter Sophia und Kronus abgesprochen gewesen sein. Ebenso die zweite Anweisung,die Klara einige Wochen später auf dem Gedankenweg erhalten hatte: dass sie sich von den Stadtwächtern ergreifen und zu Tante Ulrikas Waisenhaus bringen lassen sollte, wie es dann ja auch geschehen war. Danach aber war Klaras magische Verbindung zu Mutter Sophia abgerissen und Klara befürchtete, dass ihre einstige Beschützerin im Inquisitionskerker umgekommen war. Zum wiederholten Mal fragte sich Amos, welche Rolle eigentlich seine Tante Ulrika bei alledem spielte. Ob sie vielleicht auch dem Opus Spiritus oder zumindest einem Kreis von Mitwissern angehörte. Immerhin hatte sie Klara als Nächstes nach Wunsiedel geschickt, sodass sie beide sich rasch zusammenfinden konnten, als die Jagd auf
Das Buch der Geister
richtig losging.
Vielleicht hast du recht, antwortete sie. Vielleicht war Kronus wirklich noch stark genug, um Karol eine Gedankenbotschaft zu senden.
Und wenn nicht er selbst, so war es einer seiner Geistesbrüder vom Opus Spiritus – jedenfalls kann uns Karol nicht zufällig auf der Straße aufgelesen haben.
Sie pustete ihren kühlen Atem auf sein Gesicht. Viele fahrende Leute sind zauberkundig, allerdings nur selten in höherem Grad. Und von den heiligen Hainen der Heiden habe ich früher häufig reden gehört. Allerdings glaubte ich immer, diese uralten Heiligtümer wären längst allesamt von den Kirchenmännern zerstört worden.
Das dachte ich auch. Kronus hat mir davon erzählt, aber auch für mich klang es so, als ob er eine ferne Vergangenheit heraufbeschwören würde. Als ob alles, was es früher einmal an magischem Wissen und Zauberdingen gegeben hat, heute nur noch in Büchern überliefert wäre. »Die Zeit der alten Magier ist unwiderruflich vorbei«, hat er mehr als einmal zu mir gesagt. »Und selbst wenn es den Bücherjägern nicht gelingt, die alten Zauberschriften allesamt zu vernichten, so wird es bald niemanden mehr geben, der sie zu lesen versteht.«
Still dachten sie beide darüber nach. Die Käuze und Eulen klagten und krächzten. Nur weil Kronus mit seinem
Buch der Geister
eine Arche Noah für die alten Überlieferungen geschaffenhatte, hatten diese überhaupt eine Chance, der Vernichtung zu entgehen. Und wenn das Geisterbuch in die Hände der Bücherjäger fiel, sagte sich Amos, dann würde auch diese Arche voll kostbarster Geistesschätze untergehen.
Vielleicht ist der Hain dort oben eine der letzten magischen Stätten, die noch nicht entdeckt und zerstört worden sind , wandte er sich wieder an Klara. Die Hexenjäger und die Bücherjäger gehen jedenfalls Schulter an Schulter vor, wie Karol es vorhin zu dir gesagt hat: Am Ende sollen alle geheimen Künste und alles Zauberwissen aus alten Zeiten vergessen und vernichtet sein. Und niemand mehr am Leben, in dessen Gedächtnis die Überlieferung noch aufbewahrt wäre. Und sie sind fast schon am Ziel.
Das Krächzen der Nachtvögel wurde immer lauter. Die Füchsin schnaubte und durch die Plane hindurch summte Klara ihr einige beruhigende Laute zu.
Aber wir haben das Buch und wir werden es vor ihnen in Sicherheit bringen. Ihre Gedankenstimme klang fest und zuversichtlich . Keinen Besseren als dich konnten sie für dieses Rettungswerk auserwählen, Amos – wie groß deine magischen Kräfte jetzt schon sind, hast du ja gerade erst wieder erfahren: Du kannst nicht nur mit mir auf geistigem Weg sprechen, sondern verstehst sogar die Gedankensprache der Wächter im Buchenhain. Und die beiden dort oben haben
Das Buch der Geister
bestimmt nicht gelesen.
Bei ihren Worten sah Amos die jungen Wächter wieder vor sich, die spiegelverkehrten Abbilder von Klara und ihm selbst. Aber er schob den Gedanken beiseite. Morgen würden sie die beiden wiedersehen, und dann würde er sie einfach
Weitere Kostenlose Bücher