Opus 01 - Das verbotene Buch
und Balken, die dort oben zwischen Truhen und Säcken voller Trödelkram lagen, hervorzusuchen und eine neue Stalltür daraus zu zimmern. Unter einem Stapel alter Teppiche und Lumpen hatte Amos ein Holzstück herauslugen sehen, doch als er es unter den Tuchfetzen hervorgezogen hatte, war es eine Art magischer Pfahl gewesen – ein ausgehöhlter Baumstamm, in dem die Überreste eines menschlichen Skeletts steckten, teilweise noch in staubmürbe Tücher gewickelt, mit einem Totenkopf, der aus einem Kranz kahler Äste trübselig hervorgrinste. Er hatte es damals nicht gewagt, Kronus nach Herkunft und Bedeutung des grausigen Zauberdings zu fragen. Doch nun schien es ihm klar, dass die Wächter den toten Puppenspieler in genau so einem hohlen Baum bestatten wollten.
Amos spürte, dass er dem Geheimnis niemals so nahe gewesen war wie an diesem Ort. Dem Mysterium des Geheimbundes OpusSpiritus, der alles daran gesetzt hatte, die Magie heidnischer Heiligtümer wie dieser in
Das Buch der Geister
hinüberzuretten. Alles, dachte Amos, vielleicht wirklich alles – auch das Leben unschuldiger Menschen, die ihm auf irgendeine Weise in die Quere gekommen waren. Aber konnte das sein? Seine Eltern und Klaras Eltern kaltblütig umgebracht, weil sie ihre Kinder für das große Rettungswerk nicht hergeben wollten? Aber warum gerade uns? Und Kronus mit Mördern im Bund? Nein, ganz und gar unmöglich, dachte er wieder – es waren dieselben Fragen, mit denen er sich seit Tagen quälte.
Klara und er krochen durch den Spalt. Die Wächter folgten ihnen und gingen dann wieder voraus, die steile Felstreppe hinab bis zum sehenden See. Unablässig schien sich das riesenhafte grüne Auge dort unten zu bewegen.
Es hat die gleiche Farbe wie deine Augen.
Und wie die des männlichen Wächters. Sie versuchte zu lächeln, aber es wurde eine Angstgrimasse. Ich spüre es immer deutlicher, Amos – heute wird noch etwas Schreckliches geschehen .
Sorge dich nicht. Wir werden Karol in seinem Baum bestatten. Das wird traurig werden, aber wir sind hier in Sicherheit. Ohne Karols Stecken mit den magischen Zeichen hätten wir gar nicht noch einmal hierher gefunden .
Diesmal gelang es ihr zu lächeln. Du bist der Auserwählte. Wenn du keine Gefahr spürst, brauche ich mich auch nicht zu sorgen.
Aber er fühlte, dass sie ihren eigenen Worten nicht glaubte.
8
M
it einer langen Stange
zog einer der Wächter das Floß zum Ufer heran. Von überall her kamen nun Wächterinnen und Wächter herbei – die Stufen hinab, am Ufer des Sees entlang, der sich unabsehbar tief in den Berg hinein erstreckte.
Niemand sprach ein Wort. Auch die Gedanken, die sie auf magische Weise austauschten, waren einzig Formeln der Trauer, Anrufungen der Geister, rituelle Wehklagen, die unablässig wiederholt wurden:
Deine Güte, edler Garbún, war wie Sonnenlicht, das den Geist erhellt und die Herzen wärmt.
Unter den mächtigen Magiern warst du einer der weisesten. Unter den Weisen einer der bescheidensten Meister, edler Garbún.
Zauberisch in die Welt gewoben, durch den Willen der Geister wieder herausgezogen, edler Garbún.
Wasser – Schlamm – Staub – noch sieben Mal sieben Tage sind die Geister bei dir, edler Garbún, dann zerfällst du zu Staub.
Llóma – fárá – móhagár
.
Sie hoben Karol vom Floß und betteten ihn aufs kahle Felsenufer. Wohl ein Dutzend Wächterinnen und noch einmal so viele Wächter zählte Amos, viele von ihnen noch jung an Jahren, andere in mittlerem Alter, wie Karol gewesen war.
Klara weinte unaufhörlich, während die Wächter den Leichnam entkleideten und reinigten. Nahebei am Ufer stand ein Trog, mit rotem Schlamm gefüllt. Klaras und Amos’ Aufgabe war es, die langen Tuchbahnen, in die der Leichnam gehüllt werden sollte, mit dem Schlamm zu tränken.
Dann begannen die Wächter, den Toten von allen Seiten her gleichzeitig mit den Tüchern zu umwickeln – von den Füßen, den Händen und der Stirn aus. Sie arbeiteten rasch, doch ohne Hast, mit gleichmäßigen Bewegungen und unter unablässigem Wehklagen.
Klara tränkte die Tücher mit dem Schlamm und mit ihren Tränen. Durch beschwörende Gedanken versuchte Amos, sie zu trösten, aber sie nahm seine Worte kaum wahr.
Auch ihm selbst war das Herz immer schwerer geworden, doch zugleich befremdete ihn das feierliche Geschehen um sie herum. Wenn die Zeit der alten Magier, wie Kronus ihm erklärt hatte, unweigerlich zu Ende war – wie war es dann möglich, dass dieserheidnische Hain
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