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Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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Kronus’ schwarzem Pult bewundert hatte, nur ins Riesenhafte vergrößert und zu leuchtender, zitternder, brausender Lebendigkeit erweckt. Wie oft hatte er im einstigen Mühlhaus vor dem Pult gekauert und die schnörkelreichen Zeichen angestaunt, ohne ein einziges von ihnen entziffern zu können. Auf seine Frage, was es mit diesen Chiffren auf sich habe, hatte Kronus immer nur mit seinem stillen Lächeln geantwortet, so als ob er sagen wollte: Eines Tages, mein Junge, wirst du auch dieses Geheimnis erfahren.
    »Es ist die älteste Schrift dieser Welt.« Karol war stehen geblieben und deutete mit seinem Stecken nacheinander auf ein halbes Dutzend Buchen um sie herum. »Aus Zeichen gefügt, mit denen die Geister selbst seit alters her zu den Menschen sprechen. Richtig gelesen, ergeben sie die Formel
Llóma – fárá – móhagár
. Das heißt ›leben – vergehen – im Kreis‹ oder auch ›geboren – gestorben – sind eins‹ oder sogar, wie aus den ältesten Überlieferungen hervorgeht: ›Wasser – Schlamm – Staub‹.«
    Amos und Klara wechselten Blicke. Er fühlte sich noch immer benommen und auf seltsame Weise gleichzeitig überwach. Die Vögel tirilierten droben in den Bäumen und ließen zugleich jede einzelne Faser seines Innersten vibrieren. Das Rauschen kam von den Blättern und war doch ein Teil von ihm. So als ob zwischen Bäumen und Menschen zuinnerst gar kein Unterschied wäre und sie selbst, Karol und Klara und er, gleichzeitig Menschen und Buchen und flirrende Schriftzeichen wären.
    »Aus diesen Zeichen sind sehr viel später die Buchstaben entstanden«, fuhr unterdessen der Puppenspieler fort. »Denn irgendwann sind die Menschen auf die Idee gekommen, die in den Bäumen leuchtenden Zeichen mit bunt bemalten Holzstäben nachzuahmen. Aber was die alte Formel in ihren vielfältigen Verästelungenalles besagt, lässt sich in reiner Menschensprache nicht einmal annähernd wiedergeben, damals so wenig wie heute.
Llóma – fárá – móhagár
– das bedeutet auch ›Die Geister sind mit mir‹ oder ›Rausch der Liebe, Trauer, Wiederkehr‹ oder ›Zauberisch in die Welt gewoben‹ – es ist die innerste, heimlichste Melodie aller lebendigen Wesen, es ist der magische Herzton, mit dem wir in jedem Augenblick unsere Verbindung mit den Geistern erneuern. Verstummt dieser Ton, so scheidet sich der Schlamm des Lebendigen wieder in Wasser und Staub. Wir vergehen und kehren zurück – aber niemals mehr als diejenigen, die wir früher einmal waren. Denn wie Tropfen aus unterschiedlichen Quellen, die zusammen ein einziges Gefäß füllen, so mischen sich vielerlei Geister in jedem einzelnen Lebewesen, ja selbst in jeder Erdkrume und jedem Kieselstein. Und jede dieser Vermischungen ist einzigartig und flüchtig und kehrt niemals wieder.
Llóma – fárá – móhagár

    Er hob die Arme, wie um sie zu segnen, und für einen kurzen Moment sah Amos, wie das Ritzmuster auf seinem Stecken im Abendlicht aufglomm. Es waren dieselben Zeichen, die sie eben in den Bäumen gelesen hatten und die einst auch die Vorderseite von Kronus’ Pult bedeckt hatten.
Llóma – fárá – móhagár
. Amos spürte, wie die Formel in ihm zu summen und zu singen begann – und ihm war, als ob um ihn herum vielerlei Stimmen und Stimmchen, dröhnend und zirpend, schwach und gewaltig, in der Luft und in der Erde, in Tieren, Pflanzen und Steinen dieselbe uralte Formel raunten und summten:
Llóma – fárá – móhagár
.
    Karol ließ seine Arme sinken und das Summen und Raunen um sie herum wurde leiser. Auch die Vögel hatten ihren Abendgesang beendet und oben über der Kuppe färbte ein letzter Streifen Sonnenlicht den Himmel dämmerrot. »Ich danke euch sehr, meine jungen Freunde, dass ihr mich hierher geleitet habt. Kommt morgen früh beim ersten Tagesgrauen wieder. Dann werdet ihr von diesen beiden Wächtern alles Weitere erfahren.«
    Zwei Gestalten in altertümlicher Gewandung traten zwischen den Bäumen hervor. Es waren ein Jüngling und eine junge Frau,kaum älter als Amos und Klara. Beide trugen ebensolche breitkrempigen Hüte wie der Puppenspieler, schwarz und oben spitz zulaufend, und am Körper lediglich dünne Gewänder aus fein gegerbtem Rehleder, die ihnen bis unter die Knie reichten. Vor der Brust hingen ihnen Hohlstäbe von fahlem Grau, gut eine Männerelle lang. Erst als Amos den wohlgefüllten Köcher auf dem Rücken des Jünglings sah, wurde ihm klar, was es mit diesen Stäben auf sich hatte – es mussten

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