Opus 01 - Das verbotene Buch
ihren Füßen in einer Schießscharte verankert war. »Sei unbesorgt«, fügteer hinzu, als er ihr ungläubiges Erstaunen bemerkte, »Albrecht und ich haben erst gestern einen ganzen Marmorblock darin befördert, für eine Statue, die den Bischof darstellen soll – du kannst dir also denken, dass es ein ziemliches Trumm war. Da werden Korb und Seil unter so zierlicher Last bestimmt nicht reißen.«
Klara holte tief Luft und reichte ihm die Hand. Ihr blieb keine andere Wahl und so schwang sie sich auf den Mauersims und hangelte mit einem Fuß nach dem Flechtkorb. »Halte mich nur gut fest, Hans Wolf«, sagte sie, »dann brauchst du Amos’ Zorn auch nicht zu fürchten.« Er zuckte zusammen, doch im nächsten Moment lächelte sie ihn wieder so verheißungsvoll an, dass seine Augen sich vor Begierde milchig verschleierten.
10
A
mos, bitte – gib mir ein Zeichen!
Klara lauschte in sich hinein. Qualvoll langsam sank ihr Korb vor der Felswand zu Tale. Hin und wieder geriet er ins Schaukeln, dann wieder schrammte er über das raue Gestein und unablässig quietschte hoch über ihr der Flaschenzug.
Ich spüre, dass du am Leben bist. Bitte gib mir Antwort, ich komme noch um vor Angst.
Aber er antwortete ihr nicht, und wenn sie die Augen schloss, sah sie in ihrem Innern nur jenen einen silbernen Lichtpunkt, ihr einsames magisches Herz. Es pochte und pulsierte im Dunkeln und da war allenfalls noch ein schwacher, krampfhaft zuckender Lichtstrich irgendwo in der Nähe – doch von Amos weit und breit keine Spur.
Die Angst stieg in ihr empor, viel schneller, als sie selbst im Flechtkorb abwärtsschlich. Aber sie kämpfte sie ein ums andere Mal nieder – sie durfte sich jetzt nicht von Panik überwältigen lassen, von Schmerz und Entsetzen, weil Amos nicht mehr bei ihr war.
Der Bischof wird ihn an den Inquisitor übergeben – nein, niemals, ich lasse es nicht zu!
Leo Cellari wird ihn einkerkern und martern – aber bei allen guten Geistern, das darf und wird nicht geschehen!
So heftig schwankte Klara zwischen Bangen und Hoffen, dass ihr zuerst gar nicht auffiel, wie wild auch ihr Korb ins Schlingern geraten war. Sie legte den Kopf zurück – hoch über sich, ein schwarzer Schattenriss vor dem hellen Mittagshimmel, erblickte sie Hans Wolf und neben ihm einen zweiten jungen Mann, höher aufgeschossen und mit langen Lockenhaaren. Albrecht, dachte sie, das muss jener zweite Schüler mit Namen Albrecht Dürer sein.
Die beiden beugten sich über die Mauer und riefen ihr abwechselnd etwas zu, aber zu verstehen war überhaupt nichts. Ihr Korb war unterdessen zur Ruhe gekommen, und Klara warf einen raschen Blick nach unten – sie war beinahe am Ziel, vielleicht zehn Fuß noch über dem Erdboden, und sie verstand einfach nicht, warum Hans die Kurbel nicht weiterdrehte. Der Korb hing nun unbeweglich vor der Felswand, weder schlingerte er zur Seite noch ging es weiter abwärts.
Nun mach schon, Hans, dachte sie beschwörend – erinnere dich, was ich dir versprochen habe. Du und ich in meiner Kammer ganz allein.
Als sie wieder nach oben schaute, waren die beiden nicht mehr zu sehen, und gleich darauf hörte sie auch wieder das Quietschen des Flaschenzugs. Dem Himmel sei Dank, dachte Klara. Ein Beben ging durch das Seil und ließ den Korb vibrieren, und im nächsten Moment durchschauerte sie selbst ein noch viel ärgeres Zittern: Die beiden Idioten dort oben zogen ihren Korb doch wahrhaftig wieder hinauf!
Bei allen guten Geistern, Amos, was soll ich jetzt nur machen?
Eine Antwort erhielt sie auch diesmal nicht, doch ihr Korb nahm plötzlich wieder Fahrt auf und schrammte an der Felswand nach oben – viel rascher, als sie vorher zu Tale geschlichen war.Offenbar drehten die beiden jungen Maler gemeinsam die Kurbel.
Aber das ließ sie nicht mit sich machen – sie war Klara Thalgruber, die Tochter des glanzvollsten aller fahrenden Schausteller, und sie würde sich von diesen Kerlen nicht länger umherschaukeln lassen. Sie richtete sich in dem schwankenden, biegsamen Korb auf, klammerte sich an seinem vorderen Rand fest und schwang sich hinaus.
Der glockenförmige Korb stülpte sich um, von ihrem Gewicht gezogen, wie sie es erwartet hatte. Sie hing nun unter der Glocke, die Finger in den Rand geklammert, und machte sich so lang wie nur möglich.
Ich fliege, liebster Amos.
Sie spähte an sich herab nach unten – von ihren Fußspitzen bis zum Boden waren es noch wenigstens acht Fuß und mit jedem Augenblick, den sie länger
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