Opus 01 - Das verbotene Buch
irgendeine Weise wahrnehmen könnte. Dass sie auf magischem Weg miteinander verbunden wären, nicht gänzlich eins, aber genauso wenig ganz getrennt. Suchend flackerte ihr Blick umher, doch offenbar konnte sie ihn nicht sehen. So wenig, wie er irgendetwas tun konnte, um ihr Leben zu retten oder das des jungen Wächters, der neben ihr kniete und mit Klaras grünen Augen zu seinem Schlächter aufsah.
Vor jedem knienden Wächter stand ein Ritter mit erhobenem Schwert. Ganz wie auf dem verblassten Gemälde gab es auch hier einen Priester in goldfarbener Kutte, doch weder segnete noch taufte er die gefangenen Heiden. Reglos stand er da, einige Schritte oberhalb der Knienden, und sah zu, wie überall im Hain Mönche von Baum zu Baum gingen und mit ihren Fackeln die heiligen Buchen in Brand setzten.
Schließlich hob er seine rechte Hand. »Schickt sie zur Hölle«, sprach er – und gerade in diesem Augenblick gelang es Amos, das lähmende Entsetzen, das ihn ergriffen hatte, von sich abzuschütteln. Er riss das Knochenrohr empor und beschrieb einen Schnörkel in der Luft, wie er es bei Karól gesehen hatte. Im nächsten Moment ließen die Ritter ihre Schwerter niedersausen, und zugleich wurde Amos aus Rogár wieder fortgerissen, einen halben Herzschlag, bevor die Klinge in den Nacken seines weiblichen Ebenbildes fuhr. Um ihn herum verschwamm abermals alles zu fahlem Nebel und als die Welt wieder stillstand, war er wie vorher in der einstigen Kellerkapelle unter der Bischofsburg.
Alle starrten ihn an, die Gesichter bleich und verzerrt. Amos rieb sich den Nacken und starrte nur stumm zurück. Der Bischof vergaß zu schmatzen, Klara zu atmen, der Kaplan zu posaunen, der Organist seinen Schmollmund zu ziehen, und auch dem Maler Wolgemut schien alle feierliche Andacht vergangen zu sein.Nur Faust saß wie vorher mit dreister Gelassenheit in der Runde, die Arme vor der Brust verschränkt.
Amos begriff, dass sie alle mit ihm – durch ihn – gesehen hatten, was im 1089. Jahr des Herrn wirklich in Rogár geschehen war. Dass die christlichen Priester und Ritter die Wächter nicht bekehrt und getauft, sondern samt und sonders abgeschlachtet hatten. Und nun erst verstand er auch voll und ganz, dass alles, was Klara und er in Rogár gesehen hatten, vor vielen Jahrhunderten untergegangen war. Doch äußerst sonderbar war, dass sie beide, während sie den heidnischen Hain besucht hatten, gleichzeitig sie selbst geblieben waren – zwei Menschen aus dem Jahr 1499, die von den Bücherjägern sogar bis nach Rogár verfolgt worden waren. Und Amos ahnte, dass dieser geheimnisvolle Ort, an dem sich längst Vergangenes und Heutiges so verwirrend miteinander vermischten, einer »anderen Falte der Wirklichkeit« angehörte, wie Kronus das einmal ausgedrückt hatte – einer Welt, die es ohne
Das Buch der Geister
wohl gar nicht geben würde.
Erst als er den Blick senkte, fiel ihm auf, dass er das Knochenrohr nicht mehr in seinen Händen hielt. Auf dem Boden vor ihm lag die Goldkette mit dem Messingschild, doch das heidnische Blasrohr mit den eingeritzten Schriftzeichen
Llóma – fárá – móhagár
war nicht mehr da. Vage entsann er sich, dass es in Flammen aufgegangen war, just als er wieder aus Rogár davongerissen worden war – gerade so wie unlängst der Zauberstecken von Karol.
Amos, wir müssen weg von hier. Hörst du nicht, was der Bischof schreit?
Er schaute zu Klara, dann zu dem massigen Mann in der Purpurrobe. Der Bischof hatte es doch noch geschafft, sich aus seinem Stuhl zu stemmen. Das Antlitz schon mehr blau als nur bläulich rot verfärbt, schrie er in einem fort, ohne auch nur ein einziges Mal dazwischen pustend auszuatmen: »Höllische Verblendung! Seit Jahren spotten alle über den unermüdlichen Bruder Leo Cellari – und dabei hatte er von Anfang an recht! Dies ist das Buch, nach dem er seit so langer Zeit fahndet – das frevlerische Machwerk, dasjeden, der es liest, in teuflische Verwirrung schleudert, sodass er fortan nur noch Fratzen und Wahngebilde erblickt! Und tausendmal ärger noch, als selbst Cellari es voraussah: Wer das Teufelsbuch gelesen hat, zieht alles um sich herum in seinen satanischen Strudel hinab, wie es uns gerade eben widerfuhr.«
Keuchend und japsend, die Augen furchterregend hervorgequollen, hielt er inne, um Atemluft einzusaugen. »Aber ich habe Vorsorge getroffen«, schrie er dann weiter, »Wache, herbei – ergreift den Satansbuben und das Teufelsbuch!«
Nur einen halben Herzschlag später
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