Opus 01 - Das verbotene Buch
Narren, und die Maler hörten nicht auf, an ihren Gemälden zu arbeiten, während sie die Stufen erkletterten und die Pagen, mit den Leinwänden auf den Rücken gebückt, vor ihnen herliefen. Allen voran aber eilte Lucindas Mutter in ihrem schreiend bunten Gefiederkleid, und trotz der langen Wanderung und ihrer fortgeschrittenen Jahre schien sie noch so munter wie vor Stunden, als sie Laurentius am Ufer des donnernden Stroms willkommen geheißen hatte.
Laurenz war beim Anblick seiner Verfolger kurzzeitig erstarrt. Nun aber warf er sich regelrecht herum und begann die Treppe emporzurennen. Er selbst hätte nicht sagen können, was er damit bezweckte, und bestimmt war es ungehörig, eine ältere Dame einfach so in leichtem Galopp abzuhängen. Doch als er nach einigen Dutzend weiteren Stufen den Kopf nach hinten wandte, da folgte ihm Lucindas Mutter scheinbar mühelos auf dem Fuße. Von ihrem bunten Federkleid umweht, schien sie wahrhaftig dahinzufliegen und auch die restliche Willkommensschar lief noch immer in geringem Abstand hinter ihnen her. Die Narren wirbelten Rad schlagend die Treppe empor und die Tänzerinnen vertrieben sich die Langeweile, indem sie im Hinauflaufen Pirouetten drehten oder sich von den Dichtern im Sprung auffangen und wieder in die Luft schleudern ließen. Die Maler aber legten offenbar letzte Hand an ihre Kunstwerke an – der eine rieb im Rennen mit dem Daumen über die Leinwand, der nächste vollführte abschließende Kreidekrakel, während sie wie der Wind die Wendeltreppe emporjagten.
Als Laurenz die schmale Tür ganz oben im Muschelturm erreichte, war er vollkommen außer Atem. Er keuchte und pustete und seine Brust hob und senkte sich unter dem silbrig schimmernden Gewand. Auf der Treppe hatten zumindest einige der Musikanten ihre Lungen und Flöten kurzzeitig geschont. Nun aber, gerade als Laurenz auf weichen Knien in den Turmsaal wankte, bliesen sie allesamt aufs Neue in ihre Instrumente, und die Narren hoben wieder zu kreischen und zu klingeln an, während die Dichter abermals alle zur gleichen Zeit ihre Verse vortrugen.
Doch dort hinten, auf einem Thronsessel, der mit weißen Pelzen behängt war, saß sie – Lucinda, die Liebste seiner Träume. Ihre Haut war so weiß wie die Statuen draußen an der Allee, doch ihre Augen waren leuchtend grün wie die Waldseen, an denen sie auf dem Weg zum Schloss vorbeigekommen waren. Silberfarben war ihr Gewand und wie ein Wasserfall bei Nacht, so üppig und schwarz war Lucindas Haar.
Laurentius Answer eilte im Laufschritt durch den unerhört großen Saal und fiel vor ihr auf die Knie. Im Laufen hatte er wahrhaftig gefürchtet, dass einer der Narren ihn Rad schlagend überholen könnte oder sogar die Mutter in ihrem unglaublich bunten Vogelkleid noch an ihm vorbeisegeln würde, aber nichts dergleichen geschah. Er kniete vor ihr, wie er es sich tausendfach ausgemalt hatte, und sie beugte sich vor und legte ihre schlanke weiße Hand auf sein Haupt und sagte: »Laurentius, mein geliebter Herr …« Er musste es von ihren Lippen ablesen, denn das Gelärme schwoll nun zu einem irrsinnigen Tremolieren an. »… versprecht mir, dass Ihr mich nie mehr verlassen werdet.«
Er schwor es ihr mit heißem Herzen und erhobener Hand und so laut schreiend, dass ihm die Kehle wehtat. Da erhob sich Lucinda von ihrem Sessel, nahm ihn bei den Händen und zog ihn zu sich empor.
Sie hob sich auf die Fußzehen empor und küsste ihn. Weich und warm waren ihre Lippen, und da wusste Laurenz, dass er sie wirklich gefunden hatte, seine Liebste hinter dem Spiegel. Und Lucinda löste sich von ihm, aber nur für einen Augenblick, um etwas in den Saal zu rufen, das den ohnehin schon ungeheuerlichen Lärm nochmals verdreifachte. Dann lag sie ihm wieder in den Armen und küsste ihn und ließ sich wiederküssen, während um sie herum alles durcheinanderrannte und nur Augenblicke später bereits Scharen von Dienerinnen und Dienern im Saal erschienen, mit Platten und Schüsseln und Krügen und Kannen voll der köstlichsten Speisen und Getränke.
»Laurentius Answer«, hatte Lucinda nämlich ausgerufen, »mein über alles Geliebter, ist zurückgekehrt und das wollen wir feiern! Er wird seine Aufgabe erfüllen und diesmal wird alles gut.«
Im nächsten Augenblick, so schien es Laurenz zumindest, saßen er und Lucinda an einem gewaltig großen, kreisrunden Tisch, der schimmerte wie der blank polierte Schild eines Riesen. Der ganze Saal war mit Blumen und Girlanden geschmückt,
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