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Opus 01 - Das verbotene Buch

Titel: Opus 01 - Das verbotene Buch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gößling
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linken Arm wie in einem Wasserloch steckte, und auch die Wand um den Schild herum löste sich in funkelnden Nebel auf.

    Als er gerade bis zu dieser Stelle gelesen hatte, spürte Amos eine Art inneren Stoß und schreckte auf. Benommen blickte er um sich, und zunächst sah er weiterhin nichts als funkelnden Nebel. Doch dahinter begannen sich nun die vertrauten Umrisse von Kronus’ Schreibstube abzuzeichnen – die Regale voller Bücher, das gewaltige schwarze Pult, an dem er selbst stand, über die Blätter mit Kronus säuberlicher Handschrift gebeugt.
    Wie wundersam und rätselhaft, dachte er, bisher habe ich doch nur diese wenigen Absätze gelesen – und trotzdem war ich augenblicklich in Laurentius’ Welt eingetaucht, in sein innerstes Erleben und Empfinden. Kronus ist wirklich ein Meister der Erzählmagie.
    Er konnte es kaum erwarten, in Laurentius’ Kammer mit der zu Nebel zerstiebenden Wand zurückzukehren. Seine Augensuchten schon nach der Zeile, mit der die Geschichte weiterging. Und kaum hatte Amos wieder zu lesen begonnen, da verwandelte sich aufs Neue alles in seinem Innern und um ihn her.

    Die meisten anderen Jünglinge, die mit Laurentius zusammen von Graf Leonhard den Ritterschlag erhalten hatten, waren längst in die weite Welt hinausgezogen oder in die Schlösser und Burgen ihrer Väter zurückgekehrt. Doch er selbst zögerte seinen Abschied Woche um Woche hinaus. Nur selten noch focht er mit Leonhard und den anderen Rittern auf dem Turnierplatz – immer größere Teile des Tages verbrachte er in der Kammer vor dem blanken Schild und sang oder flüsterte liebestrunkene Verse für Lucinda.
    Nun aber schob er seinen Kopf in den Dunst hinein und erblickte eine Brücke hoch über einem gewaltigen Strom. Am Anfang der Brücke stand ein tintenschwarzes Pferd von edler Gestalt und scharrte mit dem linken Vorderhuf im Staub. Und da sprang Laurentius durch den Spiegeldampf hindurch und fand sich auf dem Rappen sitzend, in silbern durchwirktem Gewand, das Erbschwert umgeschnallt und den blanken Schild in seiner Linken.
    Er blickte auf den Schild hinab und wunderte sich flüchtig, als er sich selbst in der Scheibe sah, wie er in der Kammer stand, im weißen Nachtgewand und von der Bettkerze angeschienen. Doch gleich schon vergaß er sein Erstaunen, hängte sich den Schild am Schultergurt um und trieb den Rappen über die Brücke: Dort drüben, am anderen Ufer, stand vielerlei Volk zusammengedrängt und winkte ihm mit Mützen und Fahnen zu. Tief unter ihm donnerte der Strom dahin und wirbelte Felsbrocken mit sich, als ob es Kieselsteine wären. Die Brücke, obwohl aus massivem Stein gemauert, zitterte unaufhörlich unter der Gewalt des Gewässers. Laurenz beeilte sich, sie hinter sich zu bringen, und war erleichtert, als sein Rappe wieder festen Fels unter den Hufen hatte.
    Eine schon ältere Frau mit grauen, kunstvoll aufgetürmten Haaren trat aus der Menge und sah ehrerbietig zu ihm auf. Sie trug ein kostbares Gewand, das wie ein buntes Gefieder in vielerlei Farben gemustert war. »Laurentius Answer – seid Ihr’s, Herr?«
    Laurenz bejahte mit erstauntem Lächeln. Die Frau öffnete wieder den Mund, doch was sie sagte, war nicht zu verstehen: Das ganze bunte Volk, das beiderseits der Straße eng zusammengedrängt stand, brach in Jubelrufe aus. Laurenz erkannte Narren in klatschmohnroten Hosen, Schellenkappen auf den Köpfen. Dann Musikanten mit Hörnern und Schalmeien, junge Tänzerinnen in wehenden Kleidern, und sogar mehrere Maler, die mit bunter Kreide auf Leinwänden malten, die vor ihnen buckelnde Pagen auf ihre Rücken geschnallt trugen. Überhaupt schien das ganze Volk, das da zu Laurenz’ Begrüßung durcheinandersang und sprang, jubelte und schrie, noch jung an Jahren zu sein. Männer in der Blüte ihres Lebens erblickte Laurenz weit und breit nicht, in höherem Alter war nur die Frau in dem vogelgleich verzierten Gewand, die ihn willkommen geheißen hatte. Einige Jünglinge trugen anscheinend poetische Verse zu Ehren des Ankömmlings vor – doch zu verstehen war nach wie vor nichts, da die Musikanten aus aller Kraft in ihre Instrumente bliesen und die Narren ihre Schellenkappen klirren ließen, indem sie wie toll mit den Köpfen wackelten und Purzelbäume schlugen.
    Doch schließlich hob die Frau eine Hand, und das Gelärme erstarb so abrupt, dass Laurenz zusammenfuhr. »Edler Herr«, sagte sie, »ich habe niemals daran gezweifelt, dass Ihr eines Tages zurückkehren würdet. Im Namen meines

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