Opus 01 - Das verbotene Buch
Im nächsten Moment hatte sich der Junge umgewandt und war in der Menge verschwunden.
Amos tastete sich über die Brust – der Beutel mit Kronus’ Gulden steckte noch in seinem Wams. Während er sich aufrappelte und den Umschlag wieder an sich nahm, liefen Bardo und Marek wie besorgte Hütehunde um ihn herum im Kreis. Der eine hatte sein Schwert gezogen, der andere hielt das Gewehr im Anschlag. Doch da waren die Zerlumpten bereits allesamt wieder im Wald verschwunden – leer lag die Straße vor ihnen, nur ihre Pferde standen brav einige Schritte voraus am Wegrand und rupften staubiges Gras.
»Was waren das für Leute?«, fragte Marek. »Was wollten die von Euch, Herr?«
Zu Beginn ihres Ritts hatte Amos die beiden Burschen gebeten, ihn einfach bei seinem Vornamen zu nennen. Doch sie hatten nur erschrocken die Köpfe geschüttelt: Amos war ein Adelsspross, sie selbst entstammten einfachen Bauernfamilien. Wohl oder übel hatte er sich damit abgefunden, dass sie ihn mit dem ehrerbietigen »Ihr« und als »Herr« oder allenfalls als »Herr Amos« anredeten.
»Vom Herrn Amos – gar nichts«, gab Bardo an seiner Stelle Antwort. »Ein Weltuntergangsprophet war das mit seinen Betteljüngern, du Hohlkopf – hast du nicht gehört, was der Kommandant unlängst erzählt hat? Wie die Fliegen vermehren sich die Höllenschreier derzeit – weil wir im 1499. Jahr nach Christus sind und manche glauben, dass der Messias zu Anfang 1500 wiederkehrt.«
Marek schaute zweifelnd und kratzte sich den Rotschopf. »Aber der Kerl mit dem Stock hat auf Euch gezeigt, Herr.«
Amos zuckte mit den Achseln. Seine rechte Schulter schmerzte von dem Sturz. »Der mit dem Stock wollte vielleicht unsere Seelen retten«, sagte er. »Der mit den dreckigen Händen aber hat sich viel mehr für meine Habseligkeiten interessiert.«
Dass der blonde Junge den Umschlag von Kronus bereits in der Hand gehalten hatte, erwähnte er nicht. Das konnte doch nur ein dummer Zufall sein. Wie hätte der diebische Kerl denn von dem Brief wissen sollen? Nein, es hatte bestimmt nichts zu bedeuten – der Junge hatte ihn einfach bestehlen wollen, und da war ihm als Erstes eben der Umschlag in die Hände gefallen.
Doch so beruhigend diese Erklärung sich auch anhören mochte – nachher wälzte sich Amos auf seinem Lager im Pegnitzer Gasthof »Zum weißen Lamm« und fand nicht in den Schlaf. Von den Kirchtürmen läutete es zur elften Abendstunde, zur Mitternacht, dann ein Uhr früh. Außer ihm selbst und den beiden Soldaten lagen wohl noch ein Dutzend Männer, Frauen und Kinder auf Strohballen in der Schankstube, doch ihre regelmäßigen Atemzüge, ihr Schnarchen und Traumgemurmel bewiesen, dass sie alle tief und fest schliefen. Die Müdigkeit summte überall in Amos’ Körper, und sein Kopf fühlte sich ganz dumpf an – vor Erschöpfung und wohl auch von dem Krug Dünnbier, den er gegen seine Gewohnheit beim Abendbrot mit Bardo und Marek geleert hatte. Aber jedes Mal, wenn er kurz davor war, wegzudämmern, sah er den Weltuntergangspropheten wieder vor sich, wie er den Stock gegen ihn reckte, und den Brief in der schmutzigen Diebeshand.
Vielleicht war der blonde Junge ja doch hinter Kronus’ Umschlag hergewesen?, überlegte er wieder und wieder. Aber wie sollte das möglich sein? Wie mächtig auch immer Kronus’ Widersacher sein mochten – wie hätten sie denn erfahren sollen, dass ihn der alte Mann heute früh mit diesem Briefumschlag nach Nürnberg geschickt hatte? Und selbst wenn sie es auf irgendeineWeise in Erfahrung gebracht hätten – wie hätten sie im Handumdrehen alles arrangieren können, was vorhin vor dem Pegnitzer Stadttor geschehen war? Die Menge der Zerlumpten, die schreiend aus dem Wald gelaufen kam, den blonden Jungen, der sich zielstrebig auf Amos gestürzt hatte – nein, das alles hatte sich einfach so ergeben. Dieses abgerissene Volk hatte eben im Unterholz gelauert, bis jemand daherkäme, den sie anbetteln, erschrecken, möglicherweise auch ausrauben könnten, und sonst steckte nichts weiter dahinter.
Es überzeugte ihn immer weniger, je länger er darüber nachdachte. Der Umschlag enthielt nur ein oder zwei Blätter, aber für Kronus’ Widersacher konnten sie dennoch so kostbar sein, dass sie den Brief um jeden Preis an sich bringen wollten. Warum? Um sie zu vernichten, wie sie – laut Kronus – am liebsten alle Bücher und Schriftrollen zerstören würden, die der alte Mann in seinem Haus aufbewahrte? Aber wenn sie tatsächlich
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