Orangenmond
lassen…«
»Und wart ihr damals den ganzen Tag am Strand?« Emil seufzte sehnsüchtig.
»Ja. Oder auf den Stegen. In den ersten Tagen hatten wir immer einen furchtbaren Sonnenbrand, damals hat man Kinder noch nicht so oft eingecremt wie heute. Irgendwann tat es dann nicht mehr weh, und die Haut pellte sich am Rücken. Milena war immer ganz wild darauf, mir die Hautfetzen von den Schultern zu ziehen.«
Emil schaute Eva gespannt an.
»Und, hast du sie gelassen?«
»Na klar! Und ich durfte es auch bei ihr. Mein Vater, also der Opa, sagte immer: Kinder, heute haben wir wieder einen guten Schlag dazubekommen! Das sollte heißen, dass wir noch ein bisschen brauner geworden waren.«
»Wir fahren hin!«, unterbrach Georg sie. »Wie heißt der Platz?«
»Camping Marinella! Wir müssen dort vorne auf die S 1 6, Richtung Fano.« Georg gab Gas.
9
Als das Auto auf die Bahnunterführung zurollte, hielt Eva die Luft an. Sie war so damit beschäftigt gewesen, sich auf den Camping Marinella ihrer Kindertage zu freuen, dass sie ganz vergessen hatte, was davor lag. Graffiti auf graubraunen Betonwänden, ein paar abgekratzte Plakate, hingeschmierte Worte wie libertà und fascismo , schon stieg die Straße wieder an, sie waren unter den Gleisen hindurch.
Doch das Gefühl, schuldig, schuldig, für immer schuldig zu sein, blieb mit der Luft zum Atmen in ihren Lungen stecken. Sie ist hier nicht gestorben, sagte Eva sich mehrmals, hier nicht. Nur fast. Es nützte nichts, schon hatte sie wieder den metallischen Geschmack der Angst im Mund, wie damals, als sie die humpelnde Milena durch die Dunkelheit, nur alle paar Meter erleuchtet von den kleinen Bodenlämpchen, zum Wohnwagen schleppte. Sie waren ohnehin zu spät gewesen und hatten vereinbart, den Eltern nichts zu sagen.
Georg hielt am Straßenrand.
»Also los, gehen wir ein bisschen an den Strand. Eva macht ihre kleine Zeitreise, und Emil, wenn du ins Wasser willst, ich habe zufällig deine Badehose dabei.«
Emil sprang aus dem Auto und rannte einmal darum herum wie ein Hündchen, das zuvor stundenlang eingesperrt gewesen war.
»Wenn er noch hier ist, kannst du gleich den Besitzer Antonio kennenlernen. Für Opa war er nur der ›Schpaguzzo‹«, sagte Eva zu ihm.
»Warum?« Er schaute ihr nicht in die Augen, sondern hielt den Blick aufs Meer gerichtet.
»Ach, das sollte wohl irgendwas mit Spaghetti zu tun haben.«
»Wir sind fast nie bei Oma und Opa«, warf Emil missmutig ein. »Und die sind nie bei uns.«
»Tja, sie haben auch nie Zeit, weil sie so oft verreisen.«
»Und wenn wir mal da sind, müssen wir hartes Fleisch essen, und Oma räumt schon immer alles weg, bevor wir fertig gegessen haben.«
Eva nickte. Ihre Mutter war eine furchtbare Köchin und eine ebenso miserable Gastgeberin.
»Antonio, der ›Schpaguzzo‹, nannte Opa Manfred jedenfalls immer Hans oder Karl-Toffel.«
»Lustig«, sagt Emil gnädig.
»Die meinten das beide lustig! Milena und ich haben uns geschämt, als wir älter wurden.« Nun lachte Emil und streifte mit einem kurzen Blick ihre Augen, dann kletterte er durch die waagerechten Metallstangen, die den Strand von der Straße trennten, und lief über den hellen, feinen Sand. Georg suchte etwas im Kofferraum und lief kurz darauf Emil hinterher.
»Kann ich dein Tableee mal haben? Gibt es hier ein Netz?« Helga lächelte. »Muss mal schnell meine Finanzen überprüfen, mir ist da gerade etwas eingefallen.«
Eva schaute auf Helgas bronzen angehauchte Apfelbäck chen über ihren beneidenswert hohen Wangenknochen. Ihr hellgelbes Kleid war lässig gewickelt und dennoch elegant. Der grob gehäkelte Schlapphut sah aus wie aus der Teenieabteilung von H&M, passte aber gut zu ihrem knalligen Haar, das durch die Maschen hindurchschimmerte, und verlieh ihr etwas Hippiemäßiges, das ihr ausgezeichnet stand. Evas schwarzes Kleid war schon verknittert aus dem Koffer gekommen und nach der Fahrt vorn am Saum eine Handbreit umgeklappt, wie hatte sie das geschafft? Sie versuchte, es in Ordnung zu bringen, doch die Falte war messerscharf, die bekam sie ohne Bügeleisen nie wieder raus.
»Hier! Weißt du deinen Zugang?«
Helga spreizte ihre langen Finger mit den dunkelrot lackierten Nägeln, als sie das Tablet von Eva wie einen Säugling in Empfang nahm. »Danke!« Das Lächeln war echt, denn es gehörten tausend kleine Fältchen um ihre Augen dazu. »Kann ich hier … irgendetwas falsch machen?« Ihr Zeigefinger kreiste vage über dem Display. »Nicht,
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