Orangenmond
frühesten Kindertagen der Aufsicht von Tante Enni, Mamas Schwester, überlassen. Tante Enni konnte nicht Auto fahren, litt unter im Laufe der Jahre stärker werdenden Rheumaschüben und bewohnte das kleinste Zimmerchen in der Wohnung. Sie war still, vielleicht ein wenig altmodisch, aber gutmütig und gerecht. Jeden Tag gab es um zwölf Uhr Mittagessen, danach gingen sie raus in den Garten, bei Regen durften sie Bilder aus alten Fernsehzeitschriften ausschneiden oder mit den Puppen spielen. Eines Tages holte Enni einen hohen Stapel bunter Papierquadrate aus ihrem Zimmer und brachte ihnen die Kunst des Papierfaltens bei. Milena bastelte einen Korb, doch er geriet krumm und schief, und das machte sie furchtbar wütend. Tante Enni tröstete und ermutigte, aber das penible Falzen und Falten wurde ihr bald langweilig. Eva jedoch liebte die Regel mäßigkeit der quadratischen Blätter, aus denen sie ihre erste Schachtel, ihren ersten Frosch fertigte. Sie wollte immer mehr Figuren falten können, sodass Enni ihren schmerzenden Körper in den Bus quälte und für sie »Das große Buch des Origami« aus der Bücherei lieh. Nun machte sich Eva voller Enthusiasmus an die Quetschfaltung, die Berg- und Talfaltung, sie wagte sich an schwierige Drachen, Pfauen und Pinguine. Tante Enni hob alle ihre Kunstwerke auf.
Nach ihrem Tod schmiss ihre Schwester Annegret die Sammlung in die Tonne vor dem Haus. Eva rettete Kraniche, Bären und Schweine vor dem sicheren Müllverbrennungstod und schwor sich an diesem Tag, ihrer Mutter von nun an nie mehr zu vertrauen.
»Ich wollte ja weniger arbeiten, wenn ihr Mädchen erst in die Schule geht, um wenigstens mittags zu Hause sein. Aber dann haben wir ja das Haus gebaut!« Das Haus, das Haus, das Geschäft, das Haus. Annegret war stolz, ihren Freundinnen aus der Handelsschule den gut aussehenden Manfred, bester Fernsehtechniker seines Jahrgangs, weggeschnappt zu haben, und auf den Wohlstand, den sie sich zusammen mit ihm erarbeitet hatte.
Das Haus, das Eva nicht mal geschenkt haben wollte, war ein Fertighaus. Sie erinnerte sich noch gut an den großen Kran, der die Wände durch die Luft schweben ließ und innerhalb eines Tages zu einem echten Haus zusammenfügte. Tante Enni bekam ein größeres Zimmer im Erdgeschoss, damit sie keine Treppen steigen musste, Milena und Eva teilten sich den ausgebauten Dachboden. Tante Enni war immer da. Sie half bei den ersten Schreibübungen, fragte sie das kleine Einmaleins ab, strickte nicht kratzende Pullover auf ihrer rasselnden Strickmaschine und zeigte ihnen, wie man Eier trennt, Kartoffeln schält und später dann, wie man eine Mehlschwitze für das Hühnerfrikassee zubereitet. In der Kunst des Papierfaltens hatte Eva sie längst überflügelt. Einmal bastelte sie ihr zu Weihnachten einen großen bunten Ball aus Hunderten von kleinen Blütenkelchen, was Tante Enni zu Tränen rührte.
Die Eltern arbeiteten immer länger, sie fuhren jedes Jahr alleine zur Funkausstellung nach Berlin und gingen abends oft noch weg. Zum Kegeln, zum Tanzen. Manchmal gaben sie in ihrem Garten Grillpartys, auf denen ihre Mutter dann immer viel zu schrill und laut lachte. Sie konnten ihr gackerndes »Manfred!« bis in ihre Betten unter dem Dach hören.
Alle paar Jahre wurde der alte Mercedes gegen ein neueres Modell ausgetauscht, aber immer war er dunkelblau. Irgendwann Ende der Achtziger, als alle Welt sich klobige Videorekorder und Betamax-Kassetten kaufte, wurde der Laden vergrößert.
Waren Papa und Mama wirklich mal da, haben wir uns echt angestrengt, ging es Eva durch den Kopf. Was haben wir nicht alles getan, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Milena hat sich im Winter einmal in voller Montur in einen halb zugefrorenen Bach rutschen lassen. Das hast du extra gemacht, Milli, weil du wusstest, es ist Sonntag und Mama steht in der Küche und versucht, Gulasch zu machen. Ich habe es genau gesehen, wie du dich auf der vereisten Böschung hast fallen lassen. Und nur, um von ihr umsorgt zu werden und eine Wärmflasche ins Bett gelegt zu bekommen. Doch Mama hatte Papa vom Frühschoppen abholen müssen und war gar nicht im Haus. Also hat Tante Enni dir mit ihren geschwollenen, verkrümmten Fingern die nassen Klamotten vom Leib gezogen und eine Wärm flasche gemacht. Das Fleisch von Mamas Gulasch war hart wie immer.
Enni war etwas ganz Besonderes, trotz ihrer Schmerzen, die sie jahrelang durchleiden musste. Irgendwann ging es ihr dann richtig schlecht. Wie alt waren wir da?,
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