Orangenmond
Händchen halten oder in einer Umarmung. Wir zogen in ein Zimmer, und dann lag sie irgendwann im Bett von dem Typen, in dessen Wohnung wir uns befanden. Manchmal weinte sie, wenn sie mal wieder unsere Taschen packte, bunte Stofftaschen aus Marokko, in die nie alles reinpasste. Wir fuhren mit dem Zug, und irgendjemand holte uns ab.«
»Warum kann man das Meer nicht sehen?«
»Weil sie rechts und links der Autobahn einen Hügel aufgeschüttet haben«, antwortete Georg.
»Wieso machen diese Italiener das? Damit wir das Meer nicht sehen, weil wir nichts dafür bezahlen?!«
»Wie kommst du denn darauf?«, fragte Georg.
»Oma hat gesagt, in Italien muss man für alles bezahlen.«
Eva lachte leise. Der Kloß in ihrem Hals war verschwunden. Warum war sie plötzlich so gut gelaunt? Nur weil sie darüber nachdachte, dass sie nie mehr mit ihren Eltern irgendwo hinfahren, dass sie nie mehr unfreiwillig in einem Auto mit ihnen sitzen musste? Nie mehr gezwungen war, das salzlose Essen ihrer Mutter runterzuwürgen? Die belanglosen Sportschaukommentare ihres Vaters anzuhören? Wenn sie wollte, müsste sie Manfred und Annegret überhaupt nicht mehr sehen. Weder besuchen noch mit ihnen sprechen. Höchstens noch den Sarg für den aussuchen, der als Letzter starb. Und noch nicht einmal das.
Ausfahrt Pesaro, Urbino. Eva erinnerte sich noch gut, wie erleichtert sie war, wenn sie nach Stunden der Fahrt, in denen ihr Vater jeden überholenden Italiener beschimpfte, endlich von der Autobahn abbogen. Die Outlet-Stores, Einkaufscenter und Möbelfabriken mit ihren riesigen Hallen hatte es hier früher nicht gegeben, aber der seltsame Brunnen stand noch. Die Straße, die sich gabelte und dann leicht abschüssig auf den Hafen zuführte, ließ ihr Herz schneller klopfen. Wenn man dort unten rechts fuhr, kam man an dem offenen Platz vorbei, wo der Fischladen von Sergio war. Sie war so verliebt gewesen, eine winzig kleine Flamme züngelte in ihrer Brust auf, eine matte Wiedergabe des Gefühls, das damals in ihr gebrannt hatte.
»Was wollen wir denn hier überhaupt?«, meldete sich Helga, »Pesáro – nie von dieser Stadt gehört. Ist das denn überhaupt noch die Toskana?«
»Das sind die Marken, und vorher war es die Emilia Romagna. Wir machen einen Ausflug, Helga!«, sagte Georg. »Du hättest ja nicht mitkommen müssen.«
»Wir waren als Kinder jedes Jahr mit unseren Eltern hier. Auf einem Campingplatz.« Und außerdem wird es Pésaro ausgesprochen, mit Betonung auf dem E, fügte Eva lautlos hinzu. Helga würde sich diese Zusatzinformation sowieso nicht merken.
»Wir fahren neunzig Kilometer, um einen Campingplatz anzuschauen!?«
»Nein«, sagten Georg und Eva wie aus einem Mund.
»Nein, Oma, sie will mir zeigen, wo sie mit Mama war!«, sagte Emil. Es klang anerkennend, beinah erfreut.
»Ja, genau!« Plötzlich wollte Eva unbedingt den Camping platz wiedersehen. Die ausgeblichenen Fahnen über dem Tor, die kleine Empfangshütte daneben, die Waschräume. Ob es Antonio, den Besitzer, noch gab? Wie alt war der inzwischen wohl?
»Lasst uns zum Campingplatz fahren!«, rief sie. »Da kann man auch an den Strand gehen.«
Georgs Blick traf sie im Rückspiegel. »Und wann gehen wir den Fisch kaufen?«
Eva sah auf die Uhr. »Danach! Jetzt ist es halb vier, der Laden hat sowieso erst wieder ab fünf auf. Kommt, ein Stündchen am Strand wäre doch toll, oder?«, versuchte sie den Rest der Besatzung auf ihre Seite zu ziehen.
»Gibt es da Sand?«, fragte Emil.
»Ich glaube schon.«
»Wie, du glaubst?« Helga drehte sich zu ihr um, mit den dunklen Brillengläsern sah sie aus wie ein angriffslustiges Insekt, das nur noch überlegt, ob es sofort oder erst in zwei Sekunden zustechen soll. »Hast du nicht gerade gesagt, du warst jedes Jahr mit deinen Eltern hier?«
Wow, war das hier ein Verhör, oder was?
»Früher, als wir klein waren, gab es Sand, dann hat man den Hafen in Fano erweitert, und durch die entstandene Strömung wurde der Sand komplett abgetragen. Im nächsten Jahr gab es keinen Strand mehr, das Meer plätscherte bis an den Zaun des Campingplatzes, es wurden Holzstege gebaut, von denen wir immer gesprungen sind. Jahre später hat man weit draußen riesige Steine aufgeschüttet, als Wellenbrecher. Das Wasser wurde ruhiger, Sand konnte sich ablagern, und langsam entstand wieder ein Strand. Das letzte Mal war ich mit sechzehn da, das ist zweiundzwanzig Jahre her. Wer weiß, was sie sich in der Zwischenzeit haben einfallen
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