Orangenmond
überlegte Eva, während die Felder, die rechts von ihr vorbeiflogen, immer dichter mit hässlichen Mehrzweckhallen zugestellt waren. Ich war schon auf dem Gymnasium in der Stadt und Milena auch, das muss in der siebten und in der sechsten Klasse gewesen sein. Also zwölf und elf Jahre. Wir haben alles für sie getan, sie konnte sich ja kaum mehr bewegen. Eingekauft, gekocht, unsere Betten gemacht, Staub gesaugt, das Bad geputzt, ihre Tabletten von der Apotheke abgeholt. Haben ihr die kleinen bitteren und die großen weißen aus der Packung gedrückt und hingelegt.
Mama hielt das anscheinend für normal, sie jammerte trotzdem über die Doppelbelastung, die das Geschäft mit sich brachte. Nach Ennis Tod waren wir sehr selbstständig. Und sehr allein.
Ein Kloß stieg in Evas Kehle hoch und machte ihr das Atmen schwer. Milena hatte noch wochenlang abends unter der Bettdecke geweint, dann war Eva zu ihr gekrochen, hatte ihre Taille umfasst und sich an ihren Rücken gepresst, ganz fest. Manchmal hatte sie ihr etwas vorgesummt: Heile, heile Segen, wird ja wieder gut.
In dieser Zeit hatte sie auch angefangen, für Milena andere Figuren als die langweiligen Klassiker zu falten. Sie machte aus einer stehenden Schachtel ein Klo, faltete Frau Hammermann, indem sie einem normalen Seehund Brille und Locken der Schulbibliothekarin aufzeichnete, fing an, Voodoopüppchen, Zylinder und Galgen zu basteln. Milena sollte wieder lachen.
Eva zuckte zusammen, als eine schmale Hand auf ihrem Arm landete.
»Du guckst so, ist dir schlecht?«
»Nein, Emil, alles okay!« Eva lächelte ihm zu, schaute dann schnell aus dem Fenster und versuchte ihren zusammengebissenen Kiefer zu lockern. Er hatte sich Sorgen um sie gemacht! Er war so lieb und herzlich zu den Menschen, die er mochte. Es lag demnach wirklich nur an ihr, an ihrer immer etwas verkrampften, unsicheren Art Kindern gegenüber.
Draußen war die sattgrüne Ebene der Emilia Romagna verschwunden. Die neue Autobahn – ein einziger, glatt geteerter Streifen, auf dem die Markierungen fehlten – führte durch zwei hoch aufgeschüttete Böschungen. Kilometerlang sah man nichts außer der nackten Erde. Zwischen den Fahrbahnen lief ein durchgehender heller Betonsockel, ungefähr einen Meter hoch. Hässlich.
Früher wuchs auf der Autobahn Oleander, riesige Büsche, weiß oder rosa. Wo waren sie hingekommen? Abgebrannt, abrasiert, ausgerissen? Stattdessen nur noch pflegeleichter Beton. Zumindest hier im Norden.
Eva ist unsere kleine Pessimistin, sie sieht immer nur das, was nicht da ist. Meine Güte, die Umgebung inspirierte sie offenbar, sich an die überflüssigen Sprüche ihres Vaters zu erinnern. Dabei konnte man sich doch wunderbar an dem erfreuen, was man nicht hatte. Schulden, Krankheiten, Feinde, Pickel oder Mundgeruch. Letzteres hoffte sie jedenfalls.
Sie nahm sich vor, das Phänomen mit dem verschwundenen Oleander weiterzuverfolgen, vielleicht gab es ihn ja noch auf den Straßen weiter unten, im Süden.
»Nächste Ausfahrt Rimini!«, sagte Georg. »Warum waren wir eigentlich überall, aber nie in Rimini, Helga?«
»Wir haben immer privat gewohnt, Georgie, erinner dich, ich habe dich nie in so einen Hotelbunker geschleppt.«
»Ach ja, privat, ich vergaß.« Seine Stimme klang kalt. »Irgendwann war es dann nicht mehr so privat, und wir mussten gehen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Helga leichthin.
»Warum kann man das Meer gar nicht sehen?«, fragte Emil, bevor Georg seinen Satz erläutern konnte. Er verfolgte die Route auf einer zerfledderten ADAC-Karte konzentriert mit dem Finger und würdigte Eva keines Blickes mehr.
Georg hatte Eva von Helga und dem Tanzunterricht erzählt, den sie in verschiedenen Städten in Frankreich gab: »Manchmal hat sie mich mitgenommen, ich erinnere mich an einen Kellerraum mit glattem Linoleumboden und einem Plattenspieler, auf dem ich vor der Stunde die 45er-Singles immer schneller laufen ließ. Aber meistens war ich nicht mit dabei, sondern bei einer Freundin oder irgendwo anders untergebracht, wo ich dann auch schlafen sollte. Ich weigerte mich, denn ich hatte dauernd Angst, sie käme nicht zurück. Das erzählt sie mir heute noch. Ich sehe sie auch in einer Wohnung in einem Sessel sitzen, sie schwingt ihre Beine über die Seitenlehne und raucht, sie war sehr stolz auf ihre Beine, massierte und pflegte sie. Und immer waren andere Männer um sie herum, aber mit keinem von denen war sie richtig zusammen, glaube ich. Ich sah sie nie
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