Orangenmond
seinem weiteren Leben zu beschützen und zu stärken. Zu kurz, funkt eine Stimme in meinem Inneren dazwischen. Zu kurz. Du musst ab jetzt für Emil Vater und Mutter zugleich sein. Bekomme schon das mit dem Vater sein in meiner Verfassung kaum mehr hin.
Eva schaute in den Rückspiegel, doch Georg hielt seinen Blick unverwandt auf die Straße gerichtet. Sie hatte kein Recht, seine Aufzeichnungen zu lesen, obwohl er ihr auch schon einiges über die Zeit in Cádiz erzählt hatte. Sie las weiter:
Christa versucht, alle Interview-Anfragen von uns fernzuhalten. Richtig gelingt ihr das nicht. Woher manche dieser sogenannten Journalisten unsere Nummer haben, ist mir ein Rätsel. Milena hat sie ihnen bestimmt nicht gegeben. Ich habe unsere geheime Telefonnummer gewechselt.
Hier in Cádiz ist alles weit weg, es gibt kein deutsches Fernsehen, keine Zeitungen mit Schlagzeilen, an denen ich vorbeischauen muss. Manchmal vergesse ich sekundenlang, warum wir hier sind. In diesen seltenen, wundervollen Augenblicken, in denen mein Geist mich betrügt, komme ich mir wie in einem Urlaub ohne Milena vor. Sie ist nicht da, aber das war sie ja in der Vergangenheit auch oft nicht. Mit voller Wucht klatscht mir dann die Wahrheit wieder ins Gesicht. Sie wird nie wieder kommen. Niemals mehr. Aber ich liebe sie und ihren Körper doch noch immer! Ihr Körper, von dem ich nie genug bekommen kann, allein der laszive Schwung ihrer Hüften, wenn sie geht … O Gott, ich schreibe in der Gegenwart von ihr.
Ihre Hüften sind fort, sie hat sie mitgenommen! Wie auch ihre schlanken Oberschenkel, ihren ovalen Bauchnabel, die schönsten Brüste der Welt, ihre kleinen Füße, ihre breiten Daumennägel, ihre spitzen Spock-Ohren, auf die sie auch noch stolz war … Ihr Körper, den ich mit ihrer Erlaubnis fast sechs Jahre lang schmecken und fühlen durfte, den ich in- und auswendig kennengelernt habe, ist fort. Nur ihr Geist ist noch da, der mich quält, denn ich höre ihre Stimme so oft in mir lachen und antworten.
Hamburg, 12. Februar
Ich muss funktionieren, Emil vom Kindergarten abholen, im Supermarkt einkaufen, um für ihn etwas kochen zu können. Sein Bett abziehen, seine Fußballhose waschen, damit die am nächsten Morgen wieder trocken ist. Das ist wichtig. Um nicht in den höllischen Abgrund der Sinnlosigkeit zu fallen, der jede Minute auf mich lauert, halte ich mich an einer Fußballhose fest. Oder an den Wandertagen im Kindergarten. Oder dem abendlichen Kasperpuppenspielen und Vorlesen. Ich darf nicht heulen, ich darf nicht versteinert herumsitzen, ich muss doch waschen, wandern, vorlesen!
Ich habe unseren normalen Tagesablauf für Emil aufrechterhalten, die Stunden ziehen noch langsamer vorbei, wenn er nicht bei mir ist. Ich lehne die Angebote von Freunden und von Eva ab, die ihn mir abnehmen wollen, wie sie es nennen.
Eva schluckte. Sie erinnerte sich noch gut an diese Monate, in denen Georg Emil kaum für eine Stunde aus den Augen ließ. Sie fühlte sich schlecht, schaffte es aber nicht, sich von den Zeilen zu lösen:
Schweren Herzens lasse ich ihn zum Spielen gehen, wenn er sich verabreden will. Man merke ihm gar nichts an, berichten mir die Mütter und Väter manchmal.
20. Februar
Emil reagiert ganz anders als ich. Es kann sein, dass er vom Spielen bei einem Freund zurückgebracht wird und sich beschwert: Hey, ich wollte noch nicht weg von Samuel, wir hatten gerade die Brio-Bahn aufgebaut. Ich habe so Hunger, können wir Pizza essen?
Er ist fröhlich! Er weint nicht oft. Kann das denn sein? Er scheint einfach weiterzumachen.
22. Februar
Ich habe Emil in eine Trauergruppe für Kinder gebracht, die tut ihm gut. Dort genießt er es, nichts Besonderes zu sein, allen Kindern in der Gruppe ist dasselbe widerfahren. Jemand ist gestorben. Die Mama, der Papa, Bruder oder Schwester. Diese Selbstverständlichkeit allein reicht ihm anscheinend schon, um sich dort wohlzufühlen.
Er darf im Vulkanraum wütend sein oder eine Kerze bekleben, in die Gruppe bringt er auch Fotos von Milena mit und ihr Schlaf-T-Shirt, das er zwischen Matratze und Bettrahmen auf ihrer Seite des Bettes gefunden hat und als seinen größten Schatz hütet. Sie haben ihn in der Gruppe ermutigt, eine Kiste anzulegen, in der alle Sachen von Milena liegen, die wichtig für ihn sind. Fotos, aber auch eine Haarspange, ihr Portemonnaie aus rotem Leder, Zettel mit lustigen Figuren, die sie für ihn auf einem Flug nach Spanien gemalt hat. Einen Lippenstift, dessen Spitze noch von
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