Orangenmond
Toben, keine Schwester zum Bevormunden in Sicht. Er tat ihr leid.
Emil zuckte mit den Achseln und schob die Vorhänge beiseite. »Hey, aus deinem Fenster kann ich die Leute unten entlangspazieren sehen. Wo laufen die hin? Da vorne geht es doch gar nicht weiter.«
»Das Hotel liegt ja ziemlich am Ende des Corso Vanucci, an der Brüstung kann man stehen bleiben und weit nach Umbrien hineinschauen.«
»Warum will man denn weit nach Umbrien hinein schauen?!« Er sprach Umbrien aus, als ob es etwas höchst Widerwärtiges bezeichne. »Ha, da ist ein Kind! Aber es sitzt in einem Rollstuhl. Sitzt alleine in einem Rollstuhl und schaut überhaupt nicht nach Umbrien .«
In diesem Moment klopfte es an der Tür.
»Oh, vielleicht ist das der Junge mit der Uniform, der unser Gepäck hochgebracht hat. Was muss man sagen? Was muss man sagen, wenn es klopft, Eva? Hast du Geld, kann ich ihm noch mal Trinkgeld geben?« Emil sprang vor dem Bett auf und ab. Eva lachte. Warum war er nicht öfter so erfrischend rücksichtslos?
»Man sagt avanti. «
»Avanti!« Emil öffnete die Tür, Georg stand davor.
»Gehen wir ein bisschen durch die Stadt und suchen ein Restaurant oder irgendetwas Essbares auf die Hand?«
»In zwanzig Minuten unten in der Halle?«, fragte Eva, obwohl sie so müde war, dass sie am liebsten auf der feinen Brokatüberdecke des weichen Bettes liegen geblieben wäre.
Es war schon fast halb drei, als Eva aus dem Hotel trat. Sie war in Gedanken alle Restaurants, an die sie sich erinnern konnte, durchgegangen. Nichts für Georg und erst recht nichts für Helga, es sei denn, es gab das kleine Bartolomeo in der dunklen Gasse noch, die hinunter auf den Arco Etrusco zulief. Dort hatten nur drei wechselnde Gerichte auf der Karte gestanden, urig und deftig. Von der Decke hingen Töpfe herunter, die Tische waren klein und wackelig, die Sitzflächen der Stühle aus Sisal. Milenas Spruch über das Bartolomeo fiel Eva wieder ein: »Viel Pferdefleisch, viel Charme und null Eleganz.«
Wahrscheinlich ist heute ein Copyshop darin oder eine grell ausgeleuchtete Pizzabude, dachte sie. Und obwohl es schon längst nach zwei Uhr ist, werden die Tische der trattorie, pizzerie und ristoranti bestimmt von Touristen besetzt sein. Wir haben ja nichts reserviert.
Lass es! Eva musste sich zwingen, die Gedanken aus ihrem Hirn zu verscheuchen. Wir sind zu viert, davon drei Erwachsene, warum solltest ausgerechnet du dir den Kopf darüber zerbrechen, wo ein passendes Restaurant zu finden ist, nur weil du vor vielen Jahren mal für drei Monate in dieser Stadt gelebt hast?
Helga hatte sich stadtfein gemacht. Am Morgen noch im Tuareg-Outfit unterwegs, schwenkte sie nun ihre Handtasche am Griff wie ein kleines Mädchen sein Puppenköfferchen. Sie trug einen eng anliegenden Rock, hohe Schuhe und einen leichten Blazer. Alles in einem hellen Beigeton, der ihre gebräunte Haut und ihre hennaroten Haare warm schimmern ließ. Auch in der grellen Nachmittagssonne sah sie trotz ihrer Falten verdammt jung und unternehmungslustig aus. Eva straffte die Schultern und riss fröhlich die Augen auf, um wenigstens annähernd so aktiv und lebendig zu wirken. Ihre Blicke trafen sich. Ja, klar, Helga, ich habe wieder nur etwas Schwarzes an. Mein Diesmal-nicht-aus-Leinen-Kleid, das mir aber, wie du zugeben musst, sehr gut steht. Und das kleine schwarze Strickjäckchen, falls wir bis zum Abend unterwegs sind oder es im Schatten zu kalt werden sollte. Aber ausnahmsweise flache Schuhe; mit deinen hohen Hacken wird dir das Lachen noch vergehen, wenn wir erst einige der Treppen hoch- und runtergestiegen sind, die die Stadt auf ihrem Hügel durchkreuzen.
Helga lächelte, sagte aber nichts.
Sie schlenderten den Corso hinunter, über den gleich am Anfang ein Banner gespannt war: Festa del Borgo. Die meisten Geschäfte waren an diesem Sonntag geöffnet. Die ausgesparten Bögen in den Fassaden der prächtigen alten Häuser gaben perfekte Rahmen für die Schaufenster ab, hinter denen sich abwechselnd schicke Boutiquen und die Filialen der großen Ladenketten präsentierten: Benetton. Sisley. Esprit. Daneben alteingesessene Banken und ein paar Cafés. Gemeinsam mit ihnen trieben Touristenpärchen und Einheimische dahin, dazwischen trippelten Tauben auf den ehrwürdigen, von Kaugummiflecken verzierten Steinplatten.
»Ich habe mal versucht, im Internet etwas über diesen Reza Jafari und sein Kino herauszubekommen«, sagte Georg zu Eva, als sie vor einem Schaufenster mit
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