Orchideenhaus
Selarang-Kaserne, die die Japaner mit Changi-Gefangenen besetzten, weil die britischen Offiziere sich weigerten, einen »Nicht-Flucht«-Pakt zu unterzeichnen. Ursprünglich war Selarang für tausend Männer geplant gewesen; am Ende hatten sich dort achtzehntausend Gefangene aus Changi aufgehalten, die zwei Tage lang in glühender Hitze auf dem Hof stehen mussten, so eng nebeneinander, dass man nicht einmal die Hand heben konnte, um sich an der Nase zu kratzen. Und nachts schliefen sie, Kopf an Fuß, auf dem Betonboden.
Um die Männer vor einer Ruhrepidemie und massenhaftem Sterben aufgrund der entsetzlichen Bedingungen zu bewahren, hatte Oberst Holmes, der Befehlshaber der Truppen in Changi, den »Nicht-Flucht«-Pakt dann schließlich doch unterzeichnet.
Seitdem litt Harry unter Albträumen und hatte Probleme mit größeren Menschenansammlungen.
Als der Gepäckträger die Tür zu seinem Zimmer öffnete, stellte Harry erfreut fest, dass es hinter den geschlossenen Fensterläden angenehm kühl war, es ein Moskitonetz über dem Bett sowie schlichte, aber bequeme Möbel gab. Er
drückte dem Bediensteten die letzten paar Cent, die er noch besaß, in die Hand, schloss die Tür hinter ihm, und legte sich aufs Bett.
Beim Aufwachen einige Stunden später glaubte Harry, es sei Nacht, doch ein Blick auf die Uhr neben dem Bett zeigte ihm, dass es gerade Zeit für den Tee war. Die Fensterläden hüllten den Raum in Dunkelheit. Er stand auf, um sie zu öffnen. Der Anblick verschlug ihm den Atem: Vor ihm erstreckte sich ein grüner Rasen mit Liegestühlen und Sonnenschirmen, dahinter ein über dreißig Meter breiter Fluss, auf dem Holzboote dahinglitten. Die Schönheit und Weite ließen Harrys Augen feucht werden.
Aus dem Hahn des kleinen Waschbeckens in der Zimmerecke tröpfelte ein Rinnsal, das ihm wie Nektar erschien nach all den Jahren, in denen er sich nur bei Regen hatte waschen können. Harry schlüpfte in das Hemd und die Hose, die Sebastian ihm freundlicherweise geliehen hatte, bis er selbst wieder Kleidung besäße. Harry mühte sich ab, die Hose über den »Reisbauch« zu ziehen, den er und alle seine Mitgefangenen hatten und der sie aussehen ließ, als wären sie im sechsten Monat schwanger. Dann machte er sich auf den Weg zur Terrasse über dem Fluss.
Dort ließ er sich auf einen Stuhl unter einem Sonnenschirm sinken. Sofort eilte ein thailändischer Boy heran. »Darf ich Ihnen einen Tee bringen, Sir?«, fragte er.
Fast hätte Harry laut gelacht. In Changi wäre der Gedanke, auf einem bequemen Stuhl unter einem Sonnenschirm Tee serviert zu bekommen, absurd gewesen.
»Danke. Das wäre nett«, antwortete er, und der Boy verschwand.
Vielleicht, dachte Harry, hatte er sich daran zu gewöhnen,
dass ihm alles Normale als unnormal erschiene, bis er sich in der Freiheit wieder zurechtfinden würde. Und möglicherweise musste er auch akzeptieren, dass nur seine Leidensgenossen verstanden, was er durchgemacht hatte.
»Sir, Ihr Tee, mit Milch und Zucker.« Der Boy stellte das Tablett auf dem Tischchen neben Harry ab.
Harry konnte sich nur mit Mühe zurückhalten, den gesamten Inhalt der Zuckerschale in seinen Mund zu kippen. Zum ersten Mal seit dreieinhalb Jahren bekam er wieder Zucker zu Gesicht.
Eine halbe Stunde später, als die Sonne bereits über dem Fluss unterging, stieß Sebastian zu ihm, der zwei Gin-Tonic bestellte. Harry probierte einen Schluck und winkte ab. Auch Alkohol hatte er seit seiner Abreise aus England nicht mehr getrunken. In seinem gegenwärtigen Zustand würde er ihn schlicht und ergreifend umwerfen.
»Übrigens, bevor ich’s vergesse: Ich glaube, das gehört dir.« Sebastian legte ein kleines, ledergebundenes Tagebuch auf den Tisch. »Das hat die Schwester im Krankenhaus in deiner langen Unterhose gefunden. Sie hat es mir zur Aufbewahrung gegeben.«
Es handelte sich um das Tagebuch, das Harry seit der Abreise aus England gewissenhaft geführt hatte. Wenn die Japaner es in Changi gefunden hätten, wäre er möglicherweise erschossen worden, weswegen er es in seine Unterwäsche einnähte. Das allabendliche Niederschreiben seiner Gedanken und Gefühle hatte ihm geholfen zu überleben.
»Danke, Sebastian. Allerdings werde ich in der nächsten Zeit wohl nicht darin blättern.«
»Das kann ich verstehen, alter Junge. In drei Wochen legt ein Schiff hier ab, das dich nach Felixstowe bringen wird.
Du solltest deiner Familie ein Telegramm schicken, dass du kommst. Sie wollen dich sicher
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