Orchideenhaus
geträumt hatte, war er fast ein wenig traurig, so wenig Appetit zu verspüren.
»Danke«, sagte er heiser.
»Bis bald«, verabschiedete sich die Schwester an der Tür.
Harry sah ihr nach. Irgendwann ging ihm auf, dass er, wäre er nicht so wacklig auf den Beinen gewesen, einfach aufstehen und ihr hinaus hätte folgen können. Vor dem Krankenhaus hätte er stehen bleiben können, so lange er wollte, ohne dass jemand eine Waffe auf ihn richtete. Und er hätte die Straße entlangschlendern und vor sich hin pfeifen können, ohne aufzufallen. Ein unglaublicher Gedanke!
Fünf Minuten später klopfte es an der Tür, und jemand streckte seinen kahlen Kopf mit der dicken Brille herein.
»Harry, alter Junge, Gott sei Dank bist du wieder bei Bewusstsein! Wir hatten uns schreckliche Sorgen gemacht. Wäre wirklich sehr schade gewesen, wenn du uns jetzt noch abgenippelt wärst.«
»Tja, Pech gehabt, Sebastian«, krächzte Harry. »Wie du siehst, lebe ich.«
»Freut mich. Changi scheint die Hölle gewesen zu sein, nach allem, was ich dort gesehen habe.«
»Woher wusstest du, dass ich dort bin?«, fragte Harry.
»Deine Mutter hat es mir in einem Brief geschrieben. Als Changi befreit wurde, dachte ich mir, das Mindeste, das ich tun kann, ist hingehen, dich in der Freiheit begrüßen und dir als Ortskundiger meine Hilfe anbieten. Natürlich hatte ich nicht erwartet, dich in einem solchen Zustand vorzufinden.
Ich musste einen Malayen bestechen, dass er dich zur thailändischen Grenze bringt, wo mein Wagen und Fahrer standen.«
»Gott sei Dank bist du gekommen.«
»Keine Ursache. Wofür hat man alte Freunde?«, sagte Sebastian errötend. »Außerdem habe ich so einen unverfälschten Eindruck von den Ereignissen bekommen. Unterwegs sind wir in ein paar ziemlich brenzlige Situationen geraten. Singapur versank im Chaos. Eigentlich wollte ich dort bleiben, weil es dir so schlecht ging, aber die Krankenhäuser waren samt und sonders voll. Ich musste beten, dass du bis nach Bangkok durchhältst, wo du eine ordentliche medizinische Behandlung kriegen würdest.«
»Danke«, keuchte Harry, nach Luft ringend.
»Hier in Thailand ist es auch ziemlich schrecklich, das kann ich dir flüstern«, fuhr Sebastian fort. »Die Japsen haben das Land übernommen. War ganz schön beeindruckend, wie ganze Horden von denen anfangs noch in Zivil anmarschiert sind, angeblich als Arbeiter für ihre neuen Fabriken. Sie waren überall und haben Fotos gemacht wie Touristen. Plötzlich haben sie ihre Frauen und Kinder auf Boote entlang der Küste verfrachtet, sich selbst ihre Militäruniformen angezogen und sind in allen Städten des Landes aus ihren Löchern gekrochen. Anscheinend hatten sie die Bilder ins Tokioter Hauptquartier gesandt, damit die dort die Truppenstationierung koordinieren konnten, um das ganze Land unter Kontrolle zu bekommen.«
»Gütiger Himmel«, stöhnte Harry.
»Ja. Eins muss man ihnen lassen: Sie haben wirklich alles perfekt geplant. Dazu kam natürlich das Überraschungsmoment. Sie wollten Thailand, damit sie ungehindert von Birma nach Malaya gelangen konnten. So waren die Siamesen oder Thais, wie wir sie jetzt wohl nennen müssen, gezwungen, Großbritannien und Amerika den Krieg zu erklären.«
»Das wusste ich nicht«, erklärte Harry mit schwacher Stimme.
»Viel ist daraus nicht geworden, aber immerhin müssen wir uns mit unangenehmen kleinen Schlitzaugen rumschlagen, die seit zwei Jahren das Sagen haben. Ich persönlich bin froh, wenn sie endlich verschwinden. Momentan verlassen sie Bangkok in Scharen, mit gesenktem Blick oder einen Kopf kürzer im Chao-Phraya-Fluss. Bisher sind mindestens sechzig angespült worden.« Sebastian schnaubte amüsiert. »Weg mit den kleinen Biestern, das ist meine Meinung!«
Harry nickte zustimmend.
Sebastian rückte einen Stuhl ans Bett. »Ich weiß, dass du durch die Hölle gegangen bist, alter Junge. Sobald du kräftig genug bist, setze ich dich in ein Schiff nach Hause, natürlich erster Klasse. Damit du wieder den grünen englischen Rasen unter deinen Füßen spürst. Oder zumindest das, was noch davon übrig ist, nachdem die Krauts ihre Bomben darauf abgeworfen haben.«
»Ich weiß so wenig über das, was dort passiert ist«, presste Harry hervor.
»Im Augenblick brauchst du nur zu wissen, dass wir gesiegt haben, es deinen Eltern und Olivia gut geht und sie es kaum erwarten können, dich wieder daheimzuhaben.«
»Das ist mal eine gute Nachricht«, murmelte Harry. Sebastian beugte
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