Orchideenhaus
»Ich weiß es einfach nicht.«
»Verstehe. Lidia ahnt nicht, dass Sie verheiratet sind?«
Er wurde rot. »Hat Sebastian Ihnen das erzählt?«
» Eh oui .« Giselle nickte.
»Nein, sie ahnt es nicht, doch glauben Sie mir, meine Ehe existiert nur auf dem Papier. Von Anfang an. Weil …« Harry zuckte mit den Achseln. »Aufgrund meiner Stellung musste ich heiraten, bevor ich in den Krieg zog, um die Zukunft des Anwesens möglichst durch einen Erben zu sichern. Leider hatte meine Frau, die bei meiner Abreise schwanger war, eine Fehlgeburt.«
»Aha. In Frankreich planen adlige Familien die Zukunft ganz ähnlich. Und Lidia weiß nichts von Ihrer … Herkunft? «
»Nein.«
Giselle seufzte. »Ich frage Sie das jetzt, weil Lidia mir etwas bedeutet: Ist sie für Sie nur ein Zeitvertreib, bis Sie nach Hause zurückkehren?«
Harry sah Giselle in die Augen. »Nein. Wenn ich könnte, würde ich den Rest meines Lebens bei ihr verbringen. Aber was soll ich machen?«
»Harry, das kann ich nicht beurteilen. Vielleicht sollten Sie Lidia die Wahrheit sagen.«
»Wie kann ich das? Sie vertraut mir. Und ich habe sie belogen. «
Giselle musterte ihn eine Weile schweigend. »Wenn Sie ihr erklären, welche Verantwortung Sie tragen, versteht sie das möglicherweise, weil sie Sie liebt. Solche Dinge passieren auch hier in Thailand und sonstwo.«
»Ich weiß nicht, wie ich zurückkehren soll. Ich bezweifle,
dass ich ohne sie leben kann«, gestand Harry mit einem hilflosen Achselzucken.
Giselle tätschelte ihm mitfühlend die Schulter. » C’est un coup de foudre. Ich bin nicht in der Lage, Ihnen zu sagen, was Sie tun sollen, weil nur Sie das entscheiden können. Aber im Interesse von Lidia und diesem Hotel möchte ich Ihnen einen Vorschlag machen: Den Rest Ihres Aufenthalts stelle ich Sie offiziell als hauseigenen Pianisten an; als Gegenleistung erhalten Sie freies Logis. Essen und Getränke gehen auf Ihre Rechnung. Als Angestellten des Hauses steht es Ihnen frei, Zeit miteinander zu verbringen. Wenn Lidias Familie nach Japan übersiedelt, wohnt Lidia ebenfalls im Oriental, bis sie eine andere Bleibe gefunden hat. Das erleichtert die Situation für alle Beteiligten, n’est-ce pas ?«
»Danke, Giselle, ganz herzlichen Dank.«
»Dann wäre das also geregelt.« Giselle stand auf. »Sie reisen in einer Woche nach England ab?«
»Ja.« Harry nickte traurig. »Es sei denn …«
»Das können nur Sie entscheiden«, wiederholte Giselle.
»Ich weiß.« Er folgte ihr zur Tür. »Darf ich Sie etwas fragen, Giselle?«
»Ja.«
»Für den Fall, dass ich beschließe zu bleiben: Würden Sie mich weiter beschäftigen?«
Sie lächelte. »Mit größtem Vergnügen. Sie sind ein sehr begabter Pianist und bringen Geld für mich und meine Bar.«
Er bedankte sich noch einmal und folgte ihr ins Foyer.
In den folgenden vierundzwanzig Stunden rang Harry mit seiner Entscheidung. Er war überzeugt davon, dass er den Rest seines Lebens mit Lidia verbringen wollte. Sie war seine
zweite Hälfte, der Teil, der ihn besser und stärker machte, seine Rettung, seine Liebe …
Und er wusste, dass alle versuchen würden, ihm diese Liebe auszureden. Sie würden seine traumatischen dreieinhalb Jahre in Changi ins Feld führen, den Reiz der exotischen Frau und die Tatsache, dass er sie schnell vergäße. Schließlich kenne er sie kaum, sie hätten nichts gemein, und es könne keine dauerhafte Beziehung werden, weil sie aus so verschiedenen Welten stammten.
All das stimmte, und die Vernunft akzeptierte diese Argumente, doch nicht seine Seele.
Am Ende gelangte Harry zu folgendem Entschluss: Er musste nach Hause zurückkehren, das verlangte der Anstand von ihm. Er würde seiner Familie die Wahrheit gestehen über die Frau, die er liebte. Und er würde seinem Vater mitteilen, dass er das Anwesen seinem Cousin Hugo, Penelopes Bruder, vererben könne. Außerdem würde er Olivia um die Scheidung bitten.
Anschließend würde er wieder hierherkommen in das Land, das ihn in seinen Bann geschlagen hatte, zu der Frau, die er liebte. Er würde als Pianist arbeiten und zum ersten Mal im Leben die Freiheit besitzen, ganz er selbst zu sein. Lidia und er würden sich zusammen ein Häuschen suchen und ohne viel materiellen Besitz leben, dafür aber aufrichtig und in wahrer Liebe.
Harry machte sich, froh über diese Lösung, auf die Suche nach Giselle. Wenn ihm jemand sechs Wochen zuvor bei seiner Ankunft gesagt hätte, dass er irgendwann bereit wäre, einer jungen
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