Orchideenhaus
zurückgegeben hatte, begann er zu beten, dass er sie eines Tages wiedersehen würde.
Im Zug hielt Harry Lidia im Arm, die sich klein und federleicht anfühlte. Er döste mehrfach ein und fuhr jedes Mal mit einem Ruck hoch, weil er keinen der wertvollen Momente versäumen wollte, in denen sie ganz ihm gehörte.
Am Hotel verabschiedeten sie sich wie Fremde voneinander, denn Lidia hatte Angst, jemand könnte sie beobachten.
»Bis morgen, Liebes«, flüsterte er ihr zu.
»Bis morgen«, wiederholte sie und stieg wieder ins tuk-tuk , um nach Hause zu fahren.
An jenem Abend war Harry dankbar für die Ablenkung, die das Klavier und die aufgekratzte Stimmung in der Bar ihm boten. Sogar nach Mitternacht war ihm trotz der anstrengenden Reise nicht nach schlafen zumute. Er schlenderte zum Fluss hinunter, rauchte eine Zigarette und ließ vor seinem geistigen Auge die vergangenen drei Tage Revue passieren.
Am Wasser stehend, glaubte er, sein Glücksgefühl noch ein wenig bewahren zu können, obwohl er wusste, dass das Schiff
in die Heimat in zehn Tagen ablegte und dann alles hier zu Ende war.
Ein unerträglicher Gedanke.
Harry kehrte in sein Zimmer zurück, legte sich aufs Bett und versuchte zu schlafen. Als draußen der Morgen heraufdämmerte, hatte er noch immer kein Auge zugetan.
Harry ermahnte sich, daran zu denken, dass er verheiratet war und Verantwortung trug – nicht nur für seine Familie, sondern auch für die Beschäftigten des Guts sowie ihre Angehörigen. Trotzdem gelang es ihm nicht, die unglaublichen Veränderungen, die sich mit ihm seit seiner Abreise aus der Heimat vier Jahre zuvor vollzogen hatten, zu ignorieren. Er hatte Entbehrungen und Gewalt erlebt, wie ein Zivilist sie sich nicht vorstellen konnte. Und er hatte sich zum ersten Mal im Leben verliebt, nicht nur in Lidia, sondern in ein Land und seine Menschen.
Wie sollte er ihm den Rücken kehren? Oder ihr?
Voller Schuldgefühle, dass er Lidia nicht die Wahrheit gesagt hatte, wälzte Harry sich herum. Einem verheirateten Mann hätte sie sich vermutlich nicht hingegeben.
»Ich vertraue dir, Harry …«
Er kam sich vor wie ein Schwein.
Als der neue Tag anbrach, döste Harry endlich ein, ohne seinen inneren Aufruhr bewältigt zu haben.
In den folgenden drei Tagen verbrachten Lidia und Harry so viel Zeit miteinander, wie sie erübrigen konnten. Jedoch weigerte sie sich, in sein Zimmer zu kommen, was Harry zur Verzweiflung trieb. Er musste sich mit hastigen Küssen über den Holztisch hinweg zufrieden geben, an dem sie zu Mittag aßen, und mit Händchenhalten, wenn sie nach Arbeitsschluss mit ihm am Fluss entlangspazierte. Die unmittelbar bevorstehende
Übersiedlung ihrer Familie nach Japan beschäftigte sie, und Harry wusste nicht, wie er ihr mitteilen sollte, was er ihr sagen musste. Er umarmte sie, so oft es die Umstände erlaubten, hinterlegte Liebesbriefchen für sie an der Rezeption und war verfügbar, wann immer sie Zeit hatte, sich mit ihm zu treffen.
Eines Nachmittags, weniger als eine Woche vor Harrys geplanter Abreise, reichte Giselle ihm im Foyer ein Telegramm.
»Danke«, murmelte er und wandte sich zum Gehen.
»Hauptmann Crawford, auf ein Wort in meinem Büro, oui ?«
»Natürlich.« Er fühlte sich wie ein unartiger Schuljunge, der von der Lehrerin gerügt wird.
Giselle schloss die Tür. »Es scheint, als hätte Thailand Sie in seinen Bann geschlagen, n’est-ce pas ? Besonders eine jeune femme .« Giselle hielt einen seiner Liebesbriefe an Lidia hoch.
Harry lief rot an und nickte. »Ja. Ich liebe sie«, erklärte er trotzig.
»Das habe ich mir schon gedacht.« Giselle gab ihm den Brief. »Nehmen Sie ihn, schließlich gehört er Ihnen. Hauptmann Crawford …«
»Harry, bitte.« Er schob den Brief in seine Hosentasche.
»Harry. Normalerweise mische ich mich in Liebesdingen nicht ein. Aber ist Ihnen klar, dass Sie Lidias Stelle hier gefährden? Es ist Mitarbeitern streng verboten, mit Gästen privat Umgang zu pflegen.«
»Tut mir leid, Giselle. Das wusste ich nicht. Bitte entlassen Sie sie nicht. Sie braucht die Arbeit. Ihre Mutter ist …«
Giselle winkte ab. »Ich weiß alles über Lidias Familie, weshalb ich eine Lösung des Problems finden muss. Mir ist klar, dass es sinnlos und gemein wäre, zwei junge Erwachsene am Zusammensein zu hindern. Lidia liebt Sie, Harry, das sehe ich.
Sie müssen entschuldigen, aber ich mache mir Sorgen um sie. Sie reisen doch bald nach England ab, oder?«
Harry sank auf einen Stuhl.
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