Orchideenhaus
und gingen zu der Hütte am Strand.
»Warum hat Ihr Großvater geweint?«, fragte er.
»Er spricht von meinem Vater«, antwortete Lidia traurig. »Wir erinnern uns heute an ihn und wünschen seiner Seele Glück. Der Mönch sagt, ihr geht es gut, weil er Lektion des Leidens in diesem Leben lernt. Wenn er in nächstes Leben zurückkommt, ist seine Lektion vielleicht nicht so schwierig. Das denken wir Buddhisten.«
»Es muss tröstlich sein zu glauben, dass das Leiden einen
Zweck hat, der über unser Leben hinausreicht«, sagte Harry nachdenklich. »Wenn dieser Glaube stimmt, werden viele von denen, die in Changi unter Schmerzen gestorben sind, das nächste Mal mehr Glück haben.«
Lidia sah ihn an. »Sie glauben an Gott?«
»Der Glaube ist mir als Kind nie sonderlich gut erklärt worden«, gestand er. »Zu Hause bin ich jeden Sonntag und in der Schule jeden Tag in die Kirche gegangen. Ich fand es öde, still zu sitzen, langweilige Lieder zu singen und einem alten Mann zuzuhören. Das alles für etwas, das ich weder sehen noch spüren konnte. In Changi haben viele den Glauben für sich entdeckt, vielleicht, um sich daran festzuhalten. Aber ich …« Harry schüttelte den Kopf. »Mir fiel es schwer einzusehen, dass ein guter Gott unschuldigen Menschen solches Leid zufügt.«
Lidia nickte. »Mich kann Glaube auch nicht trösten, als mein Vater stirbt. Ich denke: Vielleicht ist er an besserem Ort, aber was ist mit mir? Ich verliere Vater, bevor ich bereit bin. Doch jetzt«, fügte sie mit leiser Stimme hinzu, »akzeptiere ich.«
»Weiß Ihre Familie, dass Ihre Mutter nach Japan gehen wird?«, fragte Harry, als sie den Strand erreichten.
»Nein. Ist besser so. Würde zu viel Schmerz machen, und sie haben schon genug davon. Sie verlieren Sohn. Sind von anderer Welt, hier auf Koh Chang. Sie würden nicht verstehen. « Lidia rang sich ein müdes Lächeln ab. »Manchmal, Harry, ist Leben sehr hart.«
»Stimmt«, pflichtete er ihr bei und blickte zum Mond hinauf, der voll und rund über dem Meer leuchtete und den Wellen einen silbernen Glanz verlieh. »Wenn ich den Glauben an den Menschen verliere, beginne ich, an die Natur zu glauben, das habe ich in Changi gelernt.« Er breitete die
Arme aus. »Irgendjemand muss diese Schönheit doch erschaffen haben.«
»Dann sind Sie schon Buddhist. Natur nährt Seele«, erklärte Lidia.
Sie gingen an der leeren Hütte vorbei, die Lidias Tante und Onkel gehörte, und erreichten die von Harry.
»Ich hoffe, Sie schlafen ruhig und gut heute Nacht, Harry«, sagte sie. »Bis morgen.«
Er zog sie an sich.
»Lidia …«
Sie wehrte sich nicht, als er sie in die Arme nahm, sondern legte den Kopf an seine Brust.
»Lidia, wenn ich es dir jetzt nicht sage, platze ich. Ich habe mich im Oriental auf den ersten Blick in dich verliebt. Ich liebe dich, Lidia, ich liebe dich sehr.« Er vergrub die Finger in ihren Haaren. »Ich weiß nicht, warum oder wie das geschehen konnte, und mir ist bewusst, dass wir aus unterschiedlichen Welten kommen, aber es hilft nichts. Die Liebe zu dir treibt mich noch in den Wahnsinn.« Er begann zu weinen wie ein Kind und ließ sie los.
»Entschuldige, Lidia … Ich …«
»Harry, es ist okay … komm.« Sie nahm seine Hand, führte ihn zu den Stufen vor der Hütte, wo sie sich setzten. Dann schlang sie ihre Arme um ihn, drückte seinen Kopf an ihre Brust und streichelte sein Gesicht.
Er vergoss Tränen über sein Leiden und das seiner Mitgefangenen, über seine Mutter, Olivia und Wharton Park und das Chaos seines Lebens. Doch hauptsächlich weinte er darüber, dass er etwas so Schönes gefunden hatte, das ihm nicht gehören konnte.
»Harry«, murmelte Lidia. »Ich bin da, ich bin da … Und ich …«
Sie flüsterte etwas auf Thai. »Was sagst du?« Er wischte sich die Tränen weg.
Sie senkte verlegen den Blick. »Ich sage … Ich liebe dich auch.«
Er sah sie erstaunt an. »Tatsächlich?«
Lidia nickte und lächelte traurig. »Für mich ist es genauso. Als ich dich das erste Mal sehe … ich …« Sie schüttelte frustriert den Kopf. »Ich habe die Worte nicht zu erklären.«
»Liebes …«, stammelte Harry und küsste sie leidenschaftlich. Sein plötzliches Verlangen machte ihm Angst; ihm war klar, dass er Lidia loslassen musste, um nicht vollends die Kontrolle zu verlieren.
Er wusste nicht, wie lange es dauerte, bis er seinen Körper wieder im Griff hatte und sich damit zufrieden geben konnte, sie in den Armen zu halten.
»Harry, ich muss gehen«,
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