Orchideenhaus
küsste ihre Schwester auf die Wange. »Auf Wiedersehen.«
Alicia schloss seufzend die Tür hinter Julia. Da spürte sie, wie sich zwei Arme um ihre Taille legten.
»Sie ist immer noch ziemlich durch den Wind«, stellte Max fest.
»Ja. Es hilft nichts, wenn sie den lieben langen Tag in dem düsteren Cottage sitzt. Das geht jetzt schon über sieben Monate so.«
»Du kannst sie zu nichts zwingen«, meinte Max. »Immerhin hat sie heute den Mund aufgekriegt. Wenigstens Opa bleibt zum Tee, und den Abwasch erledige ich. Setz dich doch zu deinem Vater und unterhalte dich mit ihm.«
Alicia kehrte ins Wohnzimmer zurück, wo ihr Vater mit ihren Söhnen spielte. Rose hatte sich nach oben in ihr Zimmer verdrückt, und Kate half Max in der Küche. Alicia schaute in den Kamin und dachte über die zufällige Entdeckung der Orchideenaquarelle und Julia nach.
Nachdem ihre Mutter viel zu früh an Eierstockkrebs gestorben war, hatte Alicia sich mit ihren vierzehn Jahren größte Mühe gegeben, sich um ihre jüngere Schwester Julia zu kümmern.
George war oft auf Vortragsreisen oder unterwegs, um Pflanzen zu sammeln; Alicia erschien es damals, als würde er so wenig Zeit wie möglich zu Hause verbringen. Da sie jedoch begriff, dass dies seine Methode war, den Verlust seiner Frau zu verarbeiten, beklagte sie sich nie über seine Abwesenheiten.
Nach Jasmines Tod hatte Julia sich ganz in sich selbst zurückgezogen und sich gegen Alicias wohlmeinende Mütterlichkeit gewehrt. Auch in der schwierigen Teenagerzeit hatte sie sich Alicia nicht anvertraut, ihr nichts über die Schule und ihre Freunde verraten, eine Mauer um ihre Gedanken errichtet und ihre freie Zeit darauf verwendet, ihr Klavierspiel zu verbessern.
Am Ende hatte Alicia »die Tasten der Hölle«, wie sie das Klavier im Arbeitszimmer nannte, als Rivalen um Julias Gunst empfunden. Ihr Pflichtbewusstsein war stärker gewesen als ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse. Mit achtzehn hatte Alicia eigentlich einen Studienplatz in Psychologie an der Durham University ergattert. Obwohl sich eine Haushälterin um alles kümmerte und sogar über Nacht blieb, wenn George unterwegs war, hatte Alicia nicht das Gefühl gehabt, Julia allein lassen zu können. Folglich war sie auf die Universität in Norwich gegangen und hatte in dem Jahr, als Julia nach London zog, um am Royal College of Music zu studieren, Max kennengelernt.
Ihre oft einsame Kindheit hatte Alicia von einem Ehemann, einer großen Familie und einem behaglichen Heim träumen lassen. Anders als ihre Schwester, die unter der gleichen Wanderlust litt wie ihr Vater, sehnte Alicia sich nach Sicherheit und Liebe. Sechs Monate nachdem Max um ihre Hand angehalten hatte, heirateten sie, und bereits ein Jahr später war sie schwanger mit Rose. Seitdem konzentrierte sie
sich voll und ganz darauf, ihren Kindern das zu geben, was sie selbst in ihrer Jugend nicht gehabt hatte.
Alicia hatte sich mit der Beschränkung ihres Horizonts aufgrund ihrer Vergangenheit abgefunden.
Schwerer fiel es ihr da schon, die fortgesetzte Lethargie ihrer jüngeren Schwester hinzunehmen. Seit dem Beginn von Julias Karriere in der Welt der klassischen Musik hatte Alicia nur noch selten von ihr gehört. Doch als Julia sie sieben Monate zuvor gebraucht hatte, war Alicia für sie dagewesen und hatte sie zurück nach Norfolk geholt. Trotzdem spürte sie nach wie vor die alte Distanziertheit und Spannung zwischen ihnen.
Alicia wusste nun genauso wenig wie zwanzig Jahre zuvor, wie sie an ihre Schwester herankommen sollte.
»Mummy, ich backe Feenkuchen zum Tee. Auf welches Tablett soll ich sie legen?«, fragte da Kate von der Tür aus. Alicia stand auf.
»Ich komme schon, Schätzchen.«
4
Als Julia am folgenden Morgen aufwachte, wartete sie auf die trüben Gedanken und die Hoffnungslosigkeit, die sie normalerweise in den ersten Sekunden nach dem Schlaf überfielen.
Doch sie kamen nicht.
Und so stand sie auf, ging zum Fenster und zog die Vorhänge zurück.
Das einfache Cottage war hauptsächlich seiner herrlichen Aussicht wegen so beliebt bei Feriengästen. Es stand auf einem grasbewachsenen Hügel, nur ein paar Meter von der High Street von Blakeney entfernt, und bot sowohl die Vorzüge
des Ortes als auch die Ruhe und den guten Ausblick der erhöhten Lage.
Die klare Januarsonne schien auf den frostbedeckten Hügel. Darunter befand sich der Hafen von Blakeney und dahinter das Meer. Julia zog den Riegel an dem kleinen Fenster zurück, öffnete es weit und
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