Orchideenhaus
Ich frage mich nur, warum er das Tagebuch versteckt hat.«
»Soviel ich weiß, sind die Japaner nicht gerade zimperlich mit Kriegsgefangenen umgegangen. Vielleicht hat dein Großvater das Tagebuch verborgen, weil er deine Großmutter nicht aus der Fassung bringen wollte. Glaubst du, ich könnte es mir ausleihen, wenn deine Familie es gelesen hat? Augenzeugenberichte finde ich faszinierend.«
»Ja, ich auch«, pflichtete Julia ihm bei, die ein schlechtes
Gewissen hatte, weil sie so wenig über Großvater Bills Vergangenheit wusste.
Kit stand auf. »Außerdem wollte ich dich um einen Gefallen bitten.« Er trat an das Bücherregal, das neben dem Kamin stand, und zog einen Band heraus. »Ich glaube, das gehört mir.«
Es war The Children’s Own Wonder Book , das Julia für ein Pfund in Wharton erstanden hatte.
»Das kann nicht sein! Es steht das Datum 1926 drin.«
»Ja, schon erstaunlich, was die plastische Chirurgie heutzutage vermag«, meinte Kit schmunzelnd. »Aber im Ernst: Es gehörte meinem Großvater. Meinst du, es wäre ein angemessenes Tauschobjekt gegen das Tagebuch?«
»Natürlich.«
»Danke. Ach, und Julia…« Plötzlich wirkte Kit verlegen. »Ich habe einen Bärenhunger und dachte, vielleicht könnten wir …« Da klingelte sein Handy. »Entschuldige bitte.« Er hielt den Apparat ans Ohr. »Hallo? Ach, hallo, Annie …« Er lauschte und schüttelte den Kopf. »Ich kann dich nicht verstehen. Die Verbindung ist sehr schlecht. Was? Es hat keinen Sinn, ich verstehe nichts. Bis später dann. Danke, tschüs.«
»Tut mir leid, Julia, ich muss los.« Kit ging zur Tür, wo er sich noch einmal zu ihr umdrehte. »Halt mich auf dem Laufenden über das Tagebuch, ja?«
»Klar. Und danke, Kit, dass du dir die Zeit genommen hast, es mir zu bringen.«
»Kein Problem. Ich habe übrigens einen Blick auf die Gewächshäuser geworfen. Sie stehen noch, allerdings kann ich nicht beurteilen, wie schlecht ihr Zustand ist. Der Küchengarten jedenfalls sieht übel aus. Schau doch mal vorbei, wenn du möchtest, bevor der neue Eigentümer einzieht. Auf Wiedersehen, Julia.«
5
Am selben Nachmittag suchte Julia einen für sie ungewöhnlichen Ort, den Supermarkt im nahe gelegenen Städtchen Holt, auf. Nach Kits Abschied war sie ziellos im Cottage herumgewandert und irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass sie Hunger hatte, großen Hunger, zum ersten Mal seit Wochen. Im Wagen auf dem Parkplatz sitzend, verschlang sie nicht nur eine Packung mit Sandwiches, sondern auch zwei Wurstbrötchen sowie einen Schokoladenriegel. Wahrscheinlich, dachte sie, war ihr Appetit von der frischen Luft und dem langen Spaziergang am Morgen angeregt worden.
Im Cottage befand sich keine Waage, aber so, wie ihr die Jeans am Leib schlotterte, waren etliche Sandwiches nötig, um ihr altes Gewicht wiederzuerlangen.
Julia warf die Verpackung auf den Beifahrersitz und machte sich auf den Weg nach Hause. Als sie die Kreuzung vor Holt erreichte, blieb sie stehen. Unvermittelt erschien ihr der Gedanke, in das kalte, dunkle kleine Cottage zurückzukehren, wenig verführerisch. Also bog sie nach rechts ab und fuhr zu Alicias Farmhaus.
»Julia, was für eine nette Überraschung!«, rief Alicia mit strahlendem Gesicht aus. »Schaut, wer da ist, Kinder: Tante Julia!«
»Ich dachte, ich … schau einfach mal vorbei.« Plötzlich fühlte Julia sich unbehaglich.
Alicia schöpfte das Essen für die Kinder, die sich am Tisch zankten, aus einem Topf auf dem Aga-Herd auf Teller.
»Schön, dass du gekommen bist. Möchtest du was essen? Bohneneintopf. Schmeckt besser, als es klingt.«
»Nein danke. Ich habe gerade gegessen.«
Alicia hob eine Augenbraue, als sie die Teller zum Tisch trug. »Tatsächlich?«
»Ja!« Julia unterdrückte das ihr inzwischen vertraute Gefühl der Verärgerung. »Wirklich, gerade erst. Aber gegen eine Tasse Tee hätte ich nichts.«
»Stell das Wasser auf; ich leiste dir Gesellschaft.« Alicia setzte sich neben den jammernden Fred und begann ihn zu füttern.
»Mummy, Bohnen sind igitt!«
»Fred, je schneller du sie isst, desto schneller sind sie weg.« Alicia trat zu Julia an den Herd. »Du hast ein bisschen Farbe gekriegt und schaust besser aus als seit Langem.«
»Danke.« Julia goss kochendes Wasser in die Teekanne. »Ich habe heute Morgen einen langen Spaziergang gemacht. Der hat mir gutgetan.«
»Sieht ganz so aus. James! Hörst du wohl auf, mit Bohnen nach Fred zu schnippen! Die isst du, jede einzelne davon.«
Julia reichte
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