Orchideenhaus
atmete tief durch. Heute, dachte Julia, war es tatsächlich möglich zu glauben, dass irgendwann der Frühling wiederkommen würde.
Als sie in ihrem dünnen T-Shirt zu zittern begann, schloss sie das Fenster, schlüpfte in ihre Jacke und ging nach unten, um Tee zu kochen.
Bis zum Mittag erhärtete sich Julias Gefühl, dass sich etwas geändert hatte. Sosehr sie sich auch bemühte, sich zu erinnern, was sie in den vergangenen Monaten in dem Cottage gemacht hatte – es gelang ihr nicht. Nun wollte die Zeit plötzlich nicht mehr vergehen; Julia war unruhig, langweilte sich sogar.
Vergeblich versuchte sie, zur behaglichen Apathie jener Tage zurückzufinden.
Als ein Gefühl der Klaustrophobie sich ihrer bemächtigte, merkte Julia, dass sie aus dem Haus musste. Sie zog Jacke, Schal und Gummistiefel an, öffnete die Tür und wanderte über das Gras in Richtung Meer.
Der Hafen lag verlassen da. Die Boote, in der Wintersaison sicher an Land, klangen unruhig. Die Takelage klimperte vor sich hin, als wollte sie die Besitzer daran erinnern, dass sie bald wieder einsatzfähig wäre. Julia ließ den Hafen hinter sich und ging die Landzunge entlang, an deren hinterem Ende sich Seehunde im Sand sonnten, sehr zur Freude der Touristen, die eigens mit dem Boot kamen, um sie zu beobachten.
Zum Schutz gegen den kalten Wind stellte sie den Kragen ihrer Jacke hoch. Julia genoss das Gefühl, allein zu sein. Auf
beiden Seiten des schmäler werdenden Landstreifens wogte Wasser – es war, als würde sie sich von der Welt wegbewegen.
Sie hielt kurz inne, bevor sie zum Wasser hinunterging. Es war tief und kalt, tief genug, um darin zu ertrinken. Wenn sie sich hineinstürzte, wäre niemand da, der sie aufhalten könnte, und der Schmerz hätte ein Ende.
Schlimmstenfalls würde sie für immer schlafen, bestenfalls sie wiedersehen.
Julia streckte vorsichtig einen Fuß aus.
Sie konnte es jetzt tun …
Jetzt …
Was sollte sie daran hindern?
Sie sah ins graue Wasser, versuchte, sich zu diesem letzten, erlösenden Schritt durchzuringen, aber …
Sie schaffte es nicht.
Julia hob den Blick zur fahlen Sonne, legte den Kopf in den Nacken und stieß einen gellenden Schrei aus.
» WWWWAAAARRRRUUUUMMM???«
Sie sank heulend auf die Knie und schlug vor Wut und Schmerz mit den Fäusten auf den Boden ein.
»Warum sie? Warum sie?« , schluchzte sie wieder und wieder.
Sie lag flach auf dem Boden, Arme und Beine von sich gestreckt, und weinte all die Tränen, die sie sieben Monate lang nicht hatte vergießen können.
Nach einer Weile richtete sie sich auf und ging auf die Knie, als wollte sie beten.
»Ich muss … leben ! Ohne euch, irgendwie …«, jammerte sie und hob die Handflächen zum Himmel.
»Hilf mir, bitte, hilf mir …« Sie sank in sich zusammen, legte den Kopf in die Hände und stützte sie auf die Knie.
Julia hörte nur noch das rhythmische Lecken der Wellen
am Ufer und stellte fest, dass es sie beruhigte. Sie spürte die Wärme der schwachen Sonne auf dem Rücken, und plötzlich durchströmte sie ein unerwartetes Gefühl des Friedens.
Julia wusste nicht, wie lange es dauerte, bis sie aufstand. Völlig durchnässt vom feuchten Boden, die Beine wacklig und beide Hände taub von der Kälte, stolperte sie die Landzunge entlang zurück zum Cottage.
Als sie es mit vom langen Gehen und Weinen zittrigen Knien erreichte, hörte sie jemanden ihren Namen rufen.
»Julia!«
Kit Crawford kam von der Highstreet auf sie zu.
»Hallo«, begrüßte er sie. »Ich wollte dich besuchen, aber du warst nicht da. Ich hab einen Zettel durch den Briefschlitz geschoben.«
»Ach«, sagte sie, ein wenig verwirrt.
»Du bist ja völlig durchnässt. Was um Himmels willen hast du getrieben?« Er blickte nach oben zum Himmel. »Hat es geregnet?«
»Nein.« Julia drückte die Haustür auf und trat auf das gefaltete Stück Papier, das Kit durch den Briefschlitz geworfen hatte. Sie hob es auf.
»Meine Handynummer.« Er deutete auf den Zettel. »Aber wenn ich dich jetzt doch persönlich erwische: Hast du Zeit für ein kurzes Gespräch?«
Julia wusste, dass sie nicht besonders begeistert wirkte, und außerdem begann sie vor Kälte mit den Zähnen zu klappern. »Ich glaube, ich brauche auf der Stelle ein heißes Bad«, antwortete sie in der Hoffnung, dass er gehen würde.
Kit folgte ihr ins Cottage. »Deine wertvollen Finger sind ganz blau. Wir dürfen nicht riskieren, dass die berühmteste britische Nachwuchspianistin sich Frostbeulen holt, oder?« Er
Weitere Kostenlose Bücher