Orchideenhaus
Alicia eine Tasse Tee. »Und … ich hatte Besuch. «
»Kit Crawford?«
»Ja.«
»Ich wollte dir noch sagen, dass Bella Harper angerufen hat, um mich nach deiner Telefonnummer zu fragen. Sie war zum Plaudern aufgelegt.« Alicia räumte die Teller ab und gab den Kindern einen Joghurt. »Wahrscheinlich glaubt sie jetzt, alles über dich zu wissen. Und ich bin in ihrem Ansehen gestiegen, weil ich eine so berühmte Schwester habe. Aber genug von dieser albernen Zicke. Was wollte Kit?«
»Er hat in Bills und Elsies altem Cottage etwas gefunden, das er mir geben wollte.« Julia nahm einen Schluck Tee.
»Ach. Was denn?«
»Ein Tagebuch, vermutlich von Großvater Bill. Darin schildert
er seine Kriegsgefangenenzeit im Changi-Gefängnis in Singapur. Ich erzähle dir mehr darüber, sobald ich es gelesen habe.«
»Interessant«, meinte Alicia. »Wie alt war Großvater Bill, als er es geschrieben hat?«
»Es stammt aus dem Jahr 1941, also dürfte er Anfang zwanzig gewesen sein. Wusstest du, dass er dort in Gefangenschaft war?«, erkundigte sich Julia.
Alicia schüttelte den Kopf. »Nein, doch das hat nichts zu sagen. Ob er wirklich da war, musst du Großmutter Elsie fragen. Die weiß es bestimmt.«
»Hast du sie in letzter Zeit gesehen?«
Alicia machte ein schuldbewusstes Gesicht. »Nein. Irgendwie finde ich nie die Zeit, sie zu besuchen. Du weißt ja, die Kinder … Ich sollte mir wirklich mehr Mühe geben.«
»Lebt sie noch in Southwold?«
»Ihre Schwester ist vor etwa einem Jahr gestorben; jetzt wohnt sie allein dort. Weißt du noch, wie wichtig es ihr immer war, uns die Haare zu machen? Hochfrisur, offen, Zöpfe, Pferdeschwanz, Locken …« Alicia lachte. »Und dann noch die Sammlung merkwürdiger Perücken im hinteren Raum des Cottage. Sie hat Stunden damit zugebracht, sie zu frisieren, wie ein Kind, das mit Puppen spielt. Wollte sie nicht Friseuse werden?«
»Ja. Sie hat meine Haare gehasst, weil sie zu schwer zum Aufdrehen waren, sogar wenn ich die Lockenwickler über Nacht dranließ.« Julia musste bei dem Gedanken daran ebenfalls lächeln. »Ich werde sie besuchen. Das wollte ich sowieso. «
Alicia ging zur Kommode und nahm ein Adressbuch aus einer der Schubladen. »Ich gebe dir Elsies Anschrift und Telefonnummer. Schön, wenn du sie besuchst, Julia. Seit du in
Frankreich lebst und ich wegen der Kinder keine Zeit mehr habe, sind wir wohl nicht die allerbesten Enkelinnen, was?«
»Stimmt«, pflichtete Julia ihr bei. »Bei dem Besuch entscheide ich dann, ob ich ihr das Tagebuch gebe oder nicht. Kit meint, Großvater Bill hätte es vielleicht versteckt, weil er sie nicht damit belasten wollte.«
»Möglich.« Alicia begann den Tisch sauber zu machen. »Wascht euch die Hände und das Gesicht, ihr Rasselbande«, wandte sie sich an die Kinder. »Dann könnt ihr vor dem Baden eine halbe Stunde fernsehen. Los.«
Die drei rannten aus der Küche, und Julia half Alicia, die Spülmaschine einzuräumen.
»Du hast dich gut mit Kit unterhalten?«
»Ja, ich hab ihm The Children’s Own Wonder Book für das Tagebuch überlassen.« Julia schmunzelte. »Er war jahrelang im Ausland und wusste nicht, was mir passiert ist. Das hat er erst jetzt von seiner Schwester erfahren.«
»Vielleicht gar nicht so schlecht«, meinte Alicia. »Er ist sehr … attraktiv. Findest du nicht?«
»Finde ich nicht, nein. Aber egal, ich muss los.«
Julias veränderter Gesichtsausdruck verriet Alicia, dass sie eine Grenze überschritten hatte. »Ich schreibe dir Elsies Telefonnummer auf.« Sie notierte sie auf einen Block und reichte den Zettel Julia. »Halt mich auf dem Laufenden, ja?«
»Ja. Danke für den Tee.« Julia war bereits auf dem Weg zur Tür. »Tschüs.«
Draußen setzte sie sich in den Wagen und schlug die Tür deutlich lauter zu, als nötig gewesen wäre, bevor sie mit quietschenden Reifen losfuhr.
Sie ärgerte sich über den untrüglichen Instinkt ihrer Schwester, sie aus der Fassung zu bringen, obwohl sie wusste, dass Alicia ihr nur helfen und sich um sie kümmern wollte,
wie damals in der Kindheit. Doch Julia fühlte sich von ihr bevormundet.
Alicia war stets die Patentere von ihnen gewesen – ihr Vater hatte sie das »Goldene Mädchen« genannt. Sie konnte mehrere Teller gleichzeitig in der Luft halten, und zwar ganz ruhig und mit perfekt sitzender Frisur.
Julia war in ihrem Schatten aufgewachsen und hatte größte Mühe gehabt mit der Organisation ihres Lebens. Sie war stets eine Einzelgängerin gewesen, hatte sich
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