Orchideenstaub
dass Sie mir Ihre letzte schmutzige Tat auch noch beichten können.“
Thiel sah ihn an und krächzte: „Sie sehen nicht aus, als würden Sie in die Kirche gehen.“
„Tu ich auch nicht, aber mit ein paar Geboten kenne ich mich ganz gut aus, vertrauen Sie mir.“
Der alte Mann kicherte vor sich hin, dann hustete er, spuckte Schleim aus und sagte: „Ich mag schlaue Menschen. Sie haben es verdient, den Rest der Geschichte zu hören. Erzählen Sie sie meinem Sohn und sagen Sie ihm, dass es mir leid tut. Ach, und unter der Schublade meines Nachttisches habe ich etwas befestigt. Geben Sie es ihm.“ Thiel röchelte und spuckte wieder, bevor er schließlich das schreckliche Geheimnis lüftete, das er nun seit knapp einem Vierteljahrhundert mit sich herumschleppte.
„Vor siebenundzwanzig Jahren stellte mir mein Sohn seine erste große Liebe vor. Zu meinem Entsetzen war sie bereits im fünften Monat schwanger, als er mir mitteilte, dass die beiden heiraten wollten … Ich konnte es doch nicht zulassen, dass sich mein einzig brauchbarer Sohn mit einer dunkelhäutigen Indianerin verheiratet? Ich lockte sie eines Mittags ins Haus, zwang sie einen Cocktail aus diversen Tabletten zu trinken und leitete damit einen Abort ein.“ Er hustete wieder und fasste sich dabei an die Brust. „Danach wollte sie Rafael alles erzählen. Mir blieb keine andere Wahl, als sie zu töten und verschwinden zu lassen … Mein Sohn hätte sich sonst von mir abgewendet.“
„Das ist alles? Was ist mit dem Baby passiert?“, fragte Sam konsterniert.
„Was denken Sie denn, was bei einer Abtreibung mit dem Fötus passiert? Er war natürlich tot.“
Sam konnte es nicht fassen. Hatte er sich geirrt?
„Sie sehen aus, als wären sie von einem Panzer überfahren worden. War das nicht das, was Sie hören wollten?“, fragte Thiel leise.
Sam stand auf und ging im Zimmer auf und ab. Er hatte etwas übersehen. Er musste etwas übersehen haben. Aber was war es?
„Waren Sie mit der jungen Frau allein, als das passierte?“, fragte Juri, während er Sam beobachtete.
„Ja, natürlich war ich mit ihr allein. Die ganze Familie war zum Shoppen ausgeflogen. Ich sagte, ich hätte einen Notfall in der Klinik.“ Thiel war müde geworden und er schloss immer wieder die Augen. Die letzten Worte hauchte er nur noch heraus.
„Wo hat das alles stattgefunden?“
„Bei uns zu Hause.“
Die letzte Frage, die Sam ihm stellte, hörte der alte Mann nicht mehr. Er war vor Erschöpfung eingeschlafen. Aber Sam war sich sicher, dass an dem besagten Tag ein Augenzeuge im Haus gewesen sein musste und sich versteckt gehalten hatte.
Sie ließen sich von Juan Carlos zur Finka fahren, um mit Aurelia zu reden und gaben gleichzeitig Nelly den Auftrag, die Schwester von Aleida Betancourt zu verhören.
Aurelia war in der Küche und half der Angestellten bei den Vorbereitungen für den algo , der aus ein paar Hotdogs und Arepas, Maisfladen, bestand. Dazu gab es in Zweiliterflaschen diverse bunte Limonaden und Kaffee. In ihrem Gesicht konnte man keine Emotionen erkennen, sie war so wie am ersten Tag, als Sam sie kennengelernt hatte. Distanziert und freundlich. Keine Anzeichen von Trauer oder Verzweiflung über die Geschehnisse der letzten Tage. Auch Sam gegenüber verhielt sie sich, als wäre er immer noch zu Gast in ihrem Gästehaus. Sie lud die beiden Männer ein, zum algo zu bleiben und so saßen Sam und Juri fünf Minuten später mit dem reduzierten Clan der Rodriguez, der nunmehr nur noch aus vier bestand, gemeinsam am Tisch.
Maria lächelte Juri unaufhörlich an und versuchte, Blickkontakt mit ihm aufzunehmen. Doch Juri widmete sich ganz seinem kleinen Hotdog auf dem Teller. Er kaute minutenlang auf einem Bissen herum und behielt dabei die Wurst im Auge. Sam hatte ihn noch nie so vertieft beim Essen erlebt und musste sich ein Lachen verkneifen.
Zum Glück löste sich die kleine Runde ziemlich schnell wieder auf und Sam und Juri konnten sich in Ruhe mit Aurelia unterhalten. Sie war sehr auskunftsbereit, was Aleidas kleinen Neffen, Nevio, anging. Sie erinnerte sich, dass er als kleiner Junge häufig mit im Haus gewesen war, weil die Schwester sich nicht immer um den Jungen kümmern konnte. Sie war Krankenschwester und hatte oft Nachtschicht. Er war ein bildhübscher aufgeweckter Junge, schwärmte sie und sprachlich sehr talentiert. Er brachte sich alles selbst bei und begann schon im jungen Alter, Bücher aus ihrer Bibliothek zu lesen. Eine besondere Vorliebe
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