Orchideenstaub
gelöst, und obwohl sie in der Zwischenzeit keinen Kontakt gehabt hatten, war er ihm so vertraut, als hätte er ihn vor einem Monat zuletzt gesehen.
Seit Jahren arbeitete er allein, es sei denn, er hatte länger in einer anderen Stadt zu tun und brauchte dort wegen lokaler Unkenntnis ein wenig Hilfe. Er war bekannt dafür, dass er mit der katholischen Kirche auf Kriegsfuß stand und kein Blatt vor den Mund nahm, wenn es darum ging seinen Standpunkt zu verteidigen. Doch dieses Mal verhielt es sich anders, er war das erste Mal froh, diesen jungen Mann an seiner Seite zu haben, der noch nicht allzu lange bei der Hamburger Kripo war, sich aber bereits einen Namen für seinen exzellenten Spürsinn gemacht hatte. Eine Eigenschaft, die ihm selbst Erfolg gebracht hatte. Im Stillen dankte er Peter Brenner und seiner unfehlbaren Intuition. Sams bester Freund war an Krebs gestorben, seine Schwester hatte sich umgebracht, seinen Vater hatte er schon vor Jahren beerdigt, seine Geliebte war ermordet worden und seine Mutter hatte er nach langer Krankheit auch vor zwei Monaten beerdigt. Das Schicksal war in den letzten Jahren nicht gerade sanft mit ihm umgegangen. Juri war jung, manchmal ein bisschen unkontrolliert, aber er würde frischen Wind in Sams Leben bringen.
„Du siehst beschissen aus, wenn ich das mal so sagen darf.“ Juri legte seine Hand auf Sams Schulter und betrachtete ihn mit besorgtem Blick, den dieser mit einem gequälten Lächeln quittierte.
Er drückte Juri die Akte von Jasmin Rewe in die Hand, um von sich abzulenken und sagte: „Komm, lass uns einen Kaffee trinken gehen. Dann kannst du dich mit den Fakten vertraut machen.“
Die Kantine war zu dieser frühen Stunde leer und sie hatten freie Platzwahl. Juri setzte sich in eine Ecke mit dem Rücken zur Wand, streckte die Beine lang aus und nahm sich als erstes den Autopsiebericht vor. Die Fotos verteilte er auf dem Tisch vor sich, ohne wirklich einen Blick darauf zu werfen.
Während Juri las, musterte Sam seinen sowohl alten als auch neuen Kollegen über seine Kaffeetasse hinweg. Er war immer noch muskulös und kräftig, seine Haut leicht gebräunt. Er trug, wie auch damals, ein Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln und eine ausgewaschene Jeans. Seine blonden Locken fielen ihm wild ins Gesicht, während er sich die Tatortfotos durchsah und den Autopsiebericht las. Der junge Beamte war für Sam ein offenes Buch. Sein Gesichtsausdruck ließ keinen Zweifel daran, was er gerade dachte.
„Nun … das ist … wie soll ich sagen … ein typischer Sam O´Connor Fall. Das letzte Mal hast du mich mit ähnlich reißerischen Berichten konfrontiert.“ Juri lachte und Sam stimmte ein.
„Erzähl mir, was dir so in den Kopf schießt?“ Jeder Tatort spricht eine eigene Sprache und der von Jasmin Rewe ganz besonders, dachte Sam und war gespannt, ob Juri seine Eindrücke teilte.
„Er hat sie nicht vergewaltigt“, stellte Juri fest.
„Nein. Keine sexualisierten Komponenten.“
„Und? Meinst du nicht, es war der Gatte? Einen Gärtner gibt’s ja nicht.“
„War auch schon mein Gedanke, und zwar allein wegen der Tatsache, dass der Täter sich in aller Seelenruhe über sein Opfer hergemacht hat. Woher wusste er, dass er so viel Zeit hatte und bei seiner Arbeit nicht gestört wird?“
„Entweder hat sie mit ihrem Mann noch telefoniert und er hat es mitbekommen. Vielleicht auch eine SMS oder er war genauestens über den Zeitablauf von Dr. Rewe informiert.“
„Ja und woher?“
„Über Frau Rewe selbst. Aber die können wir ja nun nicht mehr fragen.“ Juri zeigte auf ein Foto, auf dem man den offenen Rücken sehen konnte. „Kompensieren solche Typen ihre sexuelle Befriedigung nicht durch sadistische Handlungen?“
„Kommt vor. Ja.“
„Na schön. Mir fällt dazu nicht mehr viel ein. Außer …“
Sam horchte auf. Juri war wohl etwas aufgefallen.
„Also eins verstehe ich nicht, da macht er so einen Akt mit der Wirbelsäule und dann spritzt er ihr am Ende noch Petrolether ins Herz? Wie ist der denn drauf?“, fragte Juri überrascht.
Sam musste über Juris verzogenes Gesicht lachen, aber er war froh, dass er nicht der Einzige war, dem dieses Detail aufgefallen war.
„Er hat sie also noch toter gemacht, als sie eh schon war, wenn man das so sagen kann. Hast du schon eine Idee, nach all dem Zeug hier, mit welchem Spinner wir es zu tun haben?“
„Ich weiß nur, wenn man jemandem die Wirbelsäule durchtrennt, nimmt man ihm seine Beweglichkeit, das, was einen
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