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Vater wütend gemacht hätte – früher zumindest. Jetzt nicht mehr so sehr.
„Ich weiß, es ist noch sehr früh“, fuhr die Schwester fort, „aber meine Schicht ist fast zu Ende.“ Auch das war ein gern genannter Grund, ob der Anruf nun kurz nach Mitternacht oder kurz vor sechs Uhr morgens kam.
„Natürlich, ich verstehe“, antwortete Sabrina und biss sich auf die Unterlippe. In Wahrheit verstand sie ganz und gar nicht, wieso nicht jemand von der nachfolgenden Schicht zu einer passenderen Zeit anrufen konnte. Jedenfalls wenn es sich nicht um einen Notfall handelte.
„Er hat wieder mal versucht, das Gelände zu verlassen“, erklärte die Frau ohne große Bestürzung in der Stimme. Sie klang eher verärgert, so als spräche sie über einen Teenager auf Abwegen, der gerade mal wieder über die Stränge schlug. Und dann fügte sie eher beiläufig noch hinzu: „Er verlangt nach Ihnen. Dr. Fullerton meint, es würde ihn wohl etwas beruhigen, Sie zu sehen.“
Sabrina versprach, so schnell wie möglich zu kommen, aber die Schwester erwiderte, der Nachmittag wäre völlig ausreichend. Die Situation sei schließlich nicht außer Kontrolle. Aber warum rissen sie einen dann aus dem Schlaf zu einer Zeit, da ein Anruf eigentlich nur einen Notfall vermuten lassen konnte, und versetzten sie in eine Anspannung, die sie den ganzen Vormittag nicht wieder loswerden würde? Sie verkniff sich die Frage. Sie hatte das längst getan, worauf man sie belehrt hatte, dass man sich schließlich nur an ihre Instruktionen halte, ihre Bitte um Benachrichtigung, sobald er fixiert und sediert werden musste.
„Wir sind nicht verpflichtet, Sie anzurufen“, hatte die diensthabende Schwester am Ende ihrer Belehrung noch streng erklärt. Es handele sich um einen Anruf aus bloßer Gefälligkeit.
Sabrina setzte sich auf den Rand ihres Bettes und wartete darauf, dass das beklemmende Gefühl in ihrer Brust nachließ. Jedes Mal rechnete sie mit dem Schlimmsten oder zumindest mit etwas in der Art wie bei jenem Anruf vor zwei Jahren. Mit dem alles begonnen hatte. Sie rieb sich mit beiden Händen den Schlaf aus den Augen. War das wirklich erst zwei Jahre her? Die Beklemmung in ihrer Brust wich einem dumpfen Schmerz – nicht besser, aber wenigstens vertrauter. Sie vermisste ihre Mutter noch immer.
Sie griff nach ihren Joggingschuhen, die sie abends vor dem Bett stehen gelassen hatte, damit sie im halb wachen Zustand am Morgen nicht lange danach suchen musste. Auch ohne einen Anruf wachte Sabrina jeden Morgen vor Sonnenaufgang auf. Ihre Tagesroutine gab ihr Halt, brachte ein wenig Ordnung in das Chaos, das in ihrem einstmals so strukturierten, vorhersehbaren Leben das Regiment übernommen hatte. Statt Schlafanzug trug sie nachts Joggingshorts und Sport-BH, damit sie am Morgen gleich als Erstes laufen konnte. Das hatte sie sich angewöhnt, als sie nach Florida gezogen war. In den ersten Wochen damals hatte sie all ihre Kraft aufbieten müssen, um morgens aus den Federn zu kommen. Immer wieder hatte sie sich gesagt, dass sie für ihren Vater stark sein musste. Sie durfte ihn nicht auch noch verlieren.
Sie stand auf, machte sofort das Bett und zog die Ecken glatt. Doch noch bevor sie fertig war, sank sie wieder auf den Bettrand. Schrecklich, dass sie ihn schon wieder fixieren mussten. Als sie ihn zum ersten Mal besucht hatte, nachdem er mit Ledergurten auf seinem Bett festgeschnallt worden war wie ein Krimineller, hatte sie verlangt, ihn mit nach Hause nehmen zu dürfen – ohne auch nur darüber nachzudenken, dass sie sich nicht um ihn kümmern und gleichzeitig arbeiten konnte. Die Schwester – dieselbe, die von dem Gefallen gesprochen hatte, sie anzurufen – machte Sabrinas heroische Geste im Nu zunichte, indem sie darauf verwies, ihr Vater habe mit seiner Unterschrift besiegelt, dass nur er und Dr. Fullerton an der Behandlung etwas ändern konnten. Und Dr. Fullerton würde das selbstverständlich niemals zulassen.
Sabrina griff nach dem zusammengelegten grauen T-Shirt auf dem Stuhl in der Ecke und streifte es über. In Gedanken ging sie bereits ihren Arbeitstag durch und strukturierte ihn neu, um den nicht geplanten Ausflug am Nachmittag darin unterzubringen. Sie würde ihren Chef bitten, früher gehen zu dürfen. Es war Freitag, also sollte das kein Problem sein. Und mit etwas Glück war sie wieder zu Hause, bevor es dunkel wurde. Es mochte lächerlich sein, und sie kam sich auch jedes Mal wie ein dummes Schulmädchen vor, wenn sie es sich
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