Orphan 1 Der Engel von Inveraray
falsch war, nichts zu sagen, Genevieve." Eine Träne kullerte Simons Wange hinab. „Doch wir wussten nicht, wie wir euch mitteilen sollten, dass Jamie ausgerissen war, ohne zu verraten, dass auch Jack fortgelaufen ist."
„Erst nachdem Eunice und ich die Kinder zur Teemahlzeit gerufen hatten, haben wir bemerkt, dass die Jungen fehlten", schloss Doreen. „Doch da waren sie schon lange fort. Wir dachten, Sie würden sie vor dem Gefängnis finden und zurück nach Hause bringen."
„Die Kutsche ist nicht zum Gefängnis gefahren", verkündete Genevieve.
Eunice verzog erstaunt ihr pausbäckiges Gesicht. „Wo haben diese Polizisten ihn dann hingebracht?"
„Wenn ich dafür nur einen Anhaltspunkt hätte", antwortete Genevieve betrübt.
„Niemand im Gefängnis hat von seiner Verhaftung gehört."
„Aber diese Polizisten ..."
„Sie waren keine Polizisten", erwiderte sie.
„Was dann?"
„Ich habe keine Ahnung. Ich weiß nur, dass sie Haydon umbringen wollen."
„Um Himmels willen!" rief Doreen. „Und die Jungen sind ihnen gefolgt."
Genevieve ließ sich auf einen Stuhl sinken. Sie könnten überall sein, erkannte sie und fühlte sich, als würde sie ertrinken. Eine oder zwei Straßen weiter - oder außerhalb von Inveraray. Wenn Haydons Entführer Jack und Jamie entdeckten, würden sie die Jungen töten. Genevieve drückte die Handballen gegen ihre geschlossenen Lider und kämpfte mit den Tränen. Ich darf nicht weinen. Ich darf nicht schreien. Ich muss einen klaren Kopf behalten und nachdenken.
„Keine Angst, Mädchen", tröstete sie Oliver und legte ihr die Hand auf die Schulter,
„wir werden sie finden. Sie können mit der Kutsche nicht Schritt halten. Gewiss sind sie gerannt, bis sie völlig außer Atem waren, und nun auf dem Heimweg. Ich werde die Kutsche holen und ..."
Die Eingangstür wurde aufgerissen, und Jack und Jamie stolperten keuchend ins Haus.
„Haydon steckt in Schwierigkeiten", stieß Jack atemlos hervor. Die Hände in die Seiten gestemmt, beugte er sich vornüber und rang heftig nach Atem.
„Wir müssen ihm helfen!" Jamies kleines Gesicht war rot und schmutzig, seine Hose fleckig und über dem Knie zerrissen.
Mit einem Aufschrei schlang Genevieve die Arme um ihn und vergrub ihr Gesicht in seinem Haar. Er verströmte einen kühlen, beißenden Geruch, und sein Haar fühlte sich schweißnass an. Er war in Sicherheit. Und Jack ebenfalls.
Dem Himmel sei Dank!
Sie drückte Jamie einen Kuss auf die Stirn und schloss Jack dann fest in die Arme.
Der junge Bursche stand linkisch da, verwirrt über diese unerwartete Geste der Zuneigung.
Er konnte sich nicht erinnern, dass ihn je jemand auf diese Weise umarmt hatte.
„Wir müssen ihm folgen, Genevieve", drängte er. „Diese Männer, die ihn fortgeschleppt haben, waren keine Polizisten." Warum hielt sie ihn nur so fest umschlungen? Hatte sie geglaubt, er wäre fortgelaufen? Und selbst wenn sie das vermutet hatte, warum umarmte sie ihn dann? Er dachte nicht weiter über diese Frage nach, sondern widmete seine Aufmerksamkeit wieder Haydons Schicksal. „Wir müssen ihn da rausholen!"
Genevieve ließ ihn los und blickte ihm in die Augen.
„Weißt du, wo sie ihn hingebracht haben?"
Er nickte. „Wir sind der Kutsche bis Devil's Den gefolgt."
„Das ist das Viertel, in dem alle Diebe und Huren leben", erklärte Jamie aufgeregt.
„Das weiß ich von Jack."
„Nicht nur Diebe und Huren, doch davon gibt es gewiss genug dort", erläuterte Oliver. „Hauptsächlich leben dort raue Gesellen, die nichts mehr lieben, als zu saufen und zu raufen, um dabei für eine Weile ihr elendes Leben zu vergessen. Ich habe selbst bisweilen dort gewohnt", bekannte er, „wenn mir das Glück einmal nicht besonders hold war."
„Ich auch." Jacks graue Augen funkelten vor kaum verhohlenem Zorn. „Es ist ein Ort, wo du deine Frau oder dein Kind halb totschlagen kannst, ohne dass sich jemand darum schert. Die Nachbarn klopfen höchstens an die Wand und brüllen, du sollst nicht so viel Lärm dabei machen."
„Vermutlich haben sie ihn genau deshalb dorthin gebracht", vermutete Doreen besorgt. „Dort können sie ihr schmutziges Handwerk erledigen, ohne dass sie jemand dabei stört."
„Haydon wankte, als sie ihn aus der Kutsche zerrten", fuhr Jack fort. „Sie hatten ihre Uniformen abgelegt, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, und taten so, als sei Haydon betrunken und sie würden ihm beim Laufen helfen. Ich konnte erkennen, dass er noch immer Handschellen trug
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