Orphan 1 Der Engel von Inveraray
an solch kindischem Unfug wie Umarmungen, Gutenachtküssen und Gekicher zu beteiligen, doch sie fragte sich, ob er sich hinter dem Schutzschild seiner hart erkämpften Reife nicht insgeheim danach sehnte, seine aufgesetzte Teilnahmslosigkeit einen Augenblick ablegen zu können und einfach wieder ein kleiner Junge zu sein.
Als die Kinder Haydon eine gute Nacht wünschten und dann mit Oliver, Doreen und Eunice die Treppe hinaufhüpften, ging sie zu Jack hinüber.
„Mir ist in den Sinn gekommen, Jack, dass ein junger Mann deines Alters nicht die gleiche Zubettgehzeit haben sollte wie die Kinder."
Er zog überrascht eine Braue hoch.
„Ab morgen Abend kannst du eine Stunde länger aufbleiben, wenn du magst. Es wird deine Zeit sein, und du kannst sie verbringen, wie du möchtest. In der Bibliothek stehen viele gute Bücher, die dir vielleicht gefallen könnten. Vielleicht würdest du auch gern zu Oliver, Eunice und Doreen in die Küche gehen und eine Tasse Tee mit ihnen
trinken. Deine Gesellschaft würde sie gewiss sehr freuen. Die Zeit steht dir völlig frei zur Verfügung, du kannst tun, was dir gefällt."
Jack straffte sich, offenkundig geschmeichelt, dass Genevieve seine Reife erkannt und ihm dieses Vorrecht gewährt hatte. „Gut." Verlegen fügte er hinzu: „Vielen Dank."
Genevieve zögerte und erwiderte dann ruhig: „Ich habe mich gerade gefragt, Jack, ob du wohl bleiben wirst."
„Was meinen Sie damit?"
„Ich weiß, dass du recht gut in der Lage bist, allein auf dich Acht zu geben, so wie du es all die Jahre getan hast, bevor du herkamst", erklärte sie. „Und mir ist auch bewusst, dass du manchmal denkst, du wärest lieber wieder allein."
Jack schwieg.
„Es ist nur so, dass mir das Führen dieses Haushalts allmählich recht schwer fällt", fuhr sie seufzend fort. „Bei all den Bildern, die ich für meine kommenden Ausstellungen malen muss, frage ich mich oft, wie ich all meine anderen Aufgaben bewältigen soll. Oliver, Eunice und Doreen haben bereits alle Hände voll zu tun. Ich könnte niemals von einem von ihnen verlangen, sich auch noch um die Verwaltung des Haushaltsgeldes zu kümmern, eine Aufgabe, die ein großes Maß an Aufmerksamkeit und Genauigkeit erfordert."
Jack sah sie erstaunt an. „Sie wollen, dass ich mich unserer Buchhaltung annehme?"
„Du würdest natürlich mit einfachen Gleichungen beginnen, und ich würde deine Arbeit am Schluss überprüfen", erläuterte Genevieve. „Doch ich bin sicher, dass du schließlich in der Lage sein wirst, sie völlig selbstständig auszuführen, denn du hast dich im Rechnen als sehr begabt erwiesen."
Ein Anflug von Stolz huschte über sein Gesicht.
„Wenn du möchtest, könnte ich dir noch viele andere Aufgaben übertragen", ergänzte sie. „Du bist gewiss alt genug und verfügst zweifellos über die Reife und die Intelligenz, um sie zu bewältigen. Es wäre mir eine große Hilfe, wenn du einige meiner Pflichten übernehmen könntest, doch ich würde sie dir nur überantworten, wenn ich wüsste, dass du bleibst."
Er trat unruhig von einem Bein auf das andere und wandte den Blick ab. Es war offenkundig, dass er sie nicht anlügen wollte.
Bittere Enttäuschung überkam sie. Genevieve hatte inständig gehofft, dass Jack so erfreut über ihr Vertrauen zu ihm war, dass er ihren Vorschlag auf der Stelle annehmen würde. Offenbar hatte sie zu viel erwartet.
„Du brauchst mir nicht heute Abend zu antworten", sagte sie, und es gelang ihr irgendwie, nicht völlig niedergeschlagen zu klingen. „Ich möchte nicht, dass du eine Verpflichtung eingehst, von der du vielleicht später glaubst, sie nicht erfüllen zu können. Alles, worum ich dich bitte, Jack", schloss sie ernst, „ist, dass du darüber nachdenkst."
„In Ordnung."
Sie schaute ihn unsicher an. „Du meinst, du willst es dir überlegen?"
„Nein, ich meine, ich werde bleiben."
Sie lächelte zaghaft. „Bist du sicher?"
„Nicht für immer, natürlich", schränkte er hastig ein.
Genevieve sollte nicht glauben, er habe vor, sein ganzes Leben lang von ihrer Mildtätigkeit zu leben. Wenn er jedoch ehrlich gegenüber sich selbst war, sehnte sich ein Teil von ihm verzweifelt danach zu bleiben. Natürlich gefiel es ihm nicht, dass man ihm die ganze Zeit mitteilte, was er zu tun habe, und er hasste es, blöde Kartoffeln zu schälen, stinkenden Fisch auszunehmen und Teller zu spülen, und es ärgerte ihn, dass er nicht einfach kommen und gehen konnte, wie er wollte.
Außerdem würde er
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