Orphan 1 Der Engel von Inveraray
eigenen Füßen zu stehen, doch nicht, weil sie es so wollte, sondern weil ein hilfloses Kind sie brauchte. Sie war prompt von dem Mann verlassen worden, der gelobt hatte, sie zu seiner Frau zu machen, und von derselben Gesellschaft verstoßen worden, die sie einst für ihre Jugend, ihren Charme und ihren Liebreiz verehrt hatte.
Diese Gesellschaft konnte nicht ertragen, dass sie auch zutiefst moralisch, fürsorglich und menschenfreundlich war. Statt für ihren Edelmut und ihre Entschlossenheit bewundert zu werden, war Genevieve aus der Gesellschaft ausgestoßen und für verrückt erklärt worden, als sei es unbegreiflich, dass eine junge, begehrenswerte Frau es vorzog, das Leben eines Bankerts zu retten, statt die verwöhnte Gattin eines Grafen zu werden. Und dann, weil ihr gütiges Wesen wahre Freude dabei empfand, verlassenen Kindern zu helfen, hatte sie fünf weitere aufgenommen, und zwar nicht aus einem frömmelnden Wunsch nach Gottgefälligkeit heraus oder um sich einen besseren Platz im Himmel zu sichern oder sich dem Rest der Welt moralisch überlegen zu fühlen, nein, Genevieve half anderen, weil sie ein gutes Herz besaß, das sie unfähig machte, dem Leid anderer Menschen tatenlos zuzusehen.
Selbst dem eines verurteilten Mörders am Vorabend seiner Hinrichtung.
Haydon hatte immer gewusst, dass er ihrer nicht würdig war. Er, der so leichtfertig das Leben nicht eines, sondern zweier Menschen zerstört hatte, die beide Selbstmord begangen hatten. Doch er hätte nie geglaubt, dass seine Liebe für sie so stark werden würde, dass er bereit wäre, alles für das Privileg aufzugeben, der Mann zu sein, mit dem sie ihr Leben teilte. Wie sehr wünschte er es sich, die hässlichen schwarzen Schandflecken auf seiner Seele beseitigen zu können. Doch sie würden ihn ewig quälen - die Erinnerung an das Leid eines unschuldigen Kindes und an die unerträglichen Seelenqualen eines betrogenen Vaters. Wie konnte eine Frau wie Genevieve, die ihr Leben der Linderung des Leids anderer Menschen gewidmet hatte, einen unreifen, selbstsüchtigen Schuft wie ihn als Ehemann und Vater für ihre geliebten Kinder dulden?
Beklommen schaute Genevieve Haydon an. Sie fürchtete sich vor dem, was er sich offenbar nicht traute, ihr mitzuteilen. In den vergangenen zwei Tagen hatte sie der Strudel der Ereignisse so völlig gefangen genommen, dass keine Zeit gewesen war, darüber nachzudenken, was aus ihnen werden sollte. Nun jedoch, da sie ihn in angespannter Haltung am Kamin stehen sah, einen Ausdruck der Schuld und der Reue auf dem Gesicht, ahnte sie, was er ihr mitteilen wollte.
„Du gehst fort", sagte sie.
Er nickte, ohne sich zu ihr umzudrehen. „Morgen in der Frühe. Ich bringe Vincents Sarg mit der Kutsche nach Oban. Von dort aus nehme ich das Schiff nach Inverness."
Seine Stimme klang dumpf, als er schloss: „Ich möchte dafür sorgen, dass er an Emmalines Seite begraben wird."
Natürlich. Sein Adelstitel war ihm wieder zuerkannt worden und sein Name rein gewaschen. Was habe ich mir eingebildet, das er tun würde, fragte sie sich. Hatte sie tatsächlich geglaubt, er würde bei ihr bleiben und ... was? Sie heiraten? Eine von der Gesellschaft verstoßene alte Jungfer, die mit ihrer seltsamen Schar in die Jahre gekommener Diebe und halb rehabilitierter Gören in einem schäbigen, durch eine Hypothek belasteten alten Haus lebte? Die Vorstellung war lächerlich - das erkannte sie nun deutlich. Etwas in ihr begann zu zerbrechen - wie eine dünne Eisschicht unter den schweren Rädern einer Kutsche. Sie umklammerte die zerschlissene Armlehne des Sofas und versuchte einen Rest Würde zu bewahren.
Der Goldring, den Haydon ihr in Glasgow geschenkt hatte, schimmerte an ihrem Finger, eine spöttische Erinnerung an ihr Possenspiel als Mann und Frau. Einen köstlichen Augenblick lang hatte sie sich törichterweise gestattet zu vergessen, dass alles nur vorgetäuscht war. Irgendwann zwischen den Nächten, in denen sein Herz an ihrem schlug, während sich ihre Körper und ihre Seelen vereinigten, und dem unerträglichen Gedanken, ihn für immer verloren zu haben, war ihr entfallen, dass eine Hochzeit niemals stattgefunden hatte. Sie waren nicht verheiratet und würden es auch niemals sein. Das war die schlichte - und herzzerreißende - Wahrheit.
Um Fassung ringend, bemühte sie sich, ihre Gefühle vor ihm zu verbergen. Das Wissen, wie entsetzlich schwer es ihm fallen musste, Vincents Leiche nach Inverness zurückzubringen, gab ihr die
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