Orphan 1 Der Engel von Inveraray
empfänglich für Bestechung.
„Ich werde ihn finden!" Aus Constable Drummonds Worten sprach finstere Entschlossenheit, die Genevieve beunruhigte. „Dessen seien Sie gewiss. Ich gehe davon aus, dass er noch vor Einbruch der Nacht wieder im Kerker sitzt und morgen in aller Frühe gehängt wird."
Sie brachte ein, wie sie hoffte, halbwegs strahlendes Lächeln zu Stande. „Wie beruhigend. Allein das aus Ihrem Mund zu hören gibt mir ein Gefühl der Sicherheit. Wie Sie sich gewiss vorstellen können, bereitet es einer Frau mit kleinen Kindern große Sorge, wenn sie erfährt, dass sich ein gefährlicher Mörder in der Stadt herumtreibt. Ich werde gut auf meine Familie aufpassen, bis Sie ihn eingefangen haben. Danke, dass Sie beide sich die Zeit genommen haben, herzukommen und mich zu warnen. Das war höchst liebenswürdig von Ihnen." Sie erhob sich, als gehe sie davon aus, das Gespräch sei nun beendet.
„Eigentlich ist das nicht der einzige Grund für unseren Besuch." Governor Thomson rutschte abermals verlegen auf seinem Sessel hin und her. Genevieve fand, dass er aussah wie ein riesiges, schwankendes Ei. „Wir wollten mit dem jungen Burschen sprechen."
Sie zog verwundert die Brauen hoch. „Sie meinen Jack? Warum?"
„Es ist möglich, dass Ihr neuer ..." Constable Drummond verzog die Lippen, während er nach einem passenden Wort suchte, „Schützling uns einige Hinweise geben kann, wohin Lord Redmond geflüchtet sein könnte." Das Wort „Schützling" sprach er voller Verachtung aus.
„Was verleitet Sie zu der Annahme, er könne etwas darüber wissen?"
Constable Drummond lehnte sich in seinem Sessel zurück, legte die Spitzen seiner langen Finger aufeinander und betrachtete Genevieve eindringlich. Sie erwiderte seinen Blick mit kühler Gelassenheit.
„Sie müssen über irgendetwas geredet haben, Miss MacPhail", erwiderte er in herablassendem Tonfall, so als erkläre er einer Begriffsstutzigen eine Selbstverständlichkeit. „Lord Redmond stammt nicht aus Inveraray und wurde kurz nach seiner Ankunft hier für sein brutales Verbrechen verhaftet. Es gibt daher nicht viele Anhaltspunkte hinsichtlich seines mutmaßlichen Verstecks. In Anbetracht seines äußerst geschwächten Zustands glauben wir nicht, dass er sehr weit gekommen sein kann. Wir wissen, dass er nicht in den Gasthof zurückgekehrt ist, in dem er vor seiner Verhaftung Quartier bezogen hatte, oder in die Schenke, in der er sich in der Mordnacht betrunken hat. Wir wollen von dem Jungen erfahren, ob Lord Redmond irgendwelche Bekanntschaften in Inveraray erwähnt hat oder einen Ort, wo er sich nach einer möglichen Flucht verstecken wollte."
„Ich kenne Jack noch nicht lange, doch ich kann Ihnen sagen, dass er kein sehr gesprächiger junger Mann ist." Sie sprach im Plauderton und fügte dann freundlich hinzu: „Doch wenn Sie glauben, er könne Ihnen irgendwie nützlich sein, müssen Sie natürlich mit ihm sprechen. Oliver, wärst du so freundlich, nach Jack zu sehen und ihn zu bitten, uns Gesellschaft zu leisten?"
Oliver steckte seinen schütteren weißen Haarschopf zur Tür herein. „Jawohl."
Er verschwand und kehrte einen Augenblick später mit Jack zurück, der ihm widerwillig folgte.
Der junge Bursche, der den Salon betrat, wies nur wenig Ähnlichkeit mit dem schmutzigen Bengel auf, der am Abend zuvor das Gefängnis verlassen hatte. Seine Haut war mit Hilfe einer Bürste und duftender Seife sauber geschrubbt worden, sein fettiger, zerzauster brauner Schopf gewaschen, gestutzt und ordentlich gekämmt. Er trug eine tadellos gearbeitete Jacke, ein weißes Hemd, dunkle Hosen und ein Paar getragene, doch glänzend polierte Schuhe. Die Jacke hing ein wenig zu locker um seine schmächtige Gestalt, und sein Haar hatte sich nach dem Schneiden zu Locken gekringelt und allen Versuchen, es zu glätten, widerstanden. Auf den ersten Blick wirkte er wie ein perfekter junger Gentleman, der sich allerdings ein wenig unbehaglich fühlte.
Nur die offene Feindseligkeit, die aus seinen grauen Augen funkelte, und die Narbe über seiner linken Wange passten nicht recht in das Bild.
„Jack, du erinnerst dich an Governor Thomson", begann Genevieve.
Jack musterte den Gefängnisdirektor mit finsterem Blick.
„Und das ist Police Constable Drummond", fuhr sie fort, ohne die Feindseligkeit zu beachten, die der Junge ausstrahlte. Sie würde sich zu einem späteren Zeitpunkt seiner Manieren annehmen. Im Augenblick beschäftigte sie die Sorge, dass Jack die
Weitere Kostenlose Bücher