Orphan 1 Der Engel von Inveraray
Sie, einen kleinen Schluck zu trinken."
Das Wasser rann in seinen Mund und seine Kehle hinab. Haydon nahm erst einen Schluck, dann einen zweiten und noch einen, bis er das Glas endlich geleert hatte. Er war ein Mann, der gewöhnlich feinste Weine und Spirituosen trank, doch er konnte sich nicht entsinnen, je zuvor ein Getränk so genossen zu haben.
„Vielen Dank."
Genevieve stellte das Glas auf den Tisch und zupfte verlegen ihr Schultertuch zurecht. „Wie geht es Ihnen?"
„Besser."
Sie warf einen Blick auf das Tablett, das Eunice vor so vielen Stunden heraufgebracht hatte. „Möchten Sie ein wenig Suppe? Mittlerweile ist sie kalt, doch ich könnte hinunterlaufen und sie aufwärmen ..."
„Ich bin nicht hungrig."
Sie nickte und verfiel in Schweigen, unschlüssig, was sie als Nächstes tun oder sagen sollte.
Die ganze Nacht hindurch hatte sie ihn gepflegt, obwohl Oliver und Doreen nachdrücklich der Meinung gewesen waren, sie hätten bereits alles Menschenmögliche für ihn getan. Ob er seinen Verletzungen und dem Fieber erliegen
würde oder nicht, läge nun allein in der Hand Gottes. Doch es war Jahre her, dass Genevieve bei Dingen, die sich zumindest ein wenig beeinflussen ließen, allein auf Gott vertraut hatte. Ganz gleich, wer dieser Mann war oder was er getan hatte, sie konnte sich nicht einfach zurückziehen und ihn seinem Schicksal überlassen.
Und so war sie bei ihm geblieben.
Sie hatte lange Stunden damit zugebracht, ihn zu pflegen, kannte jeden Bluterguss, jede Schramme und jeden Striemen an seinem Körper und konnte mit ziemlicher Gewissheit sagen, welche seiner Rippen Brüche aufwiesen und welche zwar schmerzten, doch unversehrt waren. Dieses Wissen hatte ihr eine seltsame Unbefangenheit in seiner Gegenwart verliehen, während er schlief, so, als kenne sie ihn bereits seit Jahren und habe keinen Grund, ihn zu fürchten oder ihm gegenüber Scheu zu empfinden.
Nun, da er wach war, fühlte sie sich allerdings alles andere als unbefangen.
„Haben Sie ... ihm geholfen?"
Sie blickte ihn verständnislos an.
„Dem Jungen", erklärte Haydon, der die Worte nur mit Mühe hervorpressen konnte.
„Haben Sie ihm geholfen, mich zu ... befreien?"
Ihre erste Regung war, ihm zu versichern, dass sie dies ganz gewiss nicht getan habe.
Doch das entsprach nicht ganz der Wahrheit, erkannte sie. Sie hatte beobachtet, wie Jack heimlich den Schlüsselbund vom Gürtel des Wärters gelöst hatte, und statt ihn daran zu hindern, hatte sie ein riesiges Durcheinander heraufbeschworen, um Sims abzulenken. In dem folgenden Drunter und Drüber war sie nicht sofort losgestürmt, um Jack zu suchen und ihn ins Büro des Direktors zurückzubringen, wie es ihre Pflicht gewesen wäre. Stattdessen hatte sie voller Unruhe darauf gewartet, dass er sein wie auch immer geartetes Vorhaben ausführen und zurückkehren würde.
Hatte sie seine Absicht nicht wenigstens geahnt? Umso mehr, da Jack vorher so inständig darauf bestanden hatte, dass sie auch diesen Verurteilten aus dem Gefängnis holte
und mit nach Hause nahm?
„Es gehört nicht zu meinen Gewohnheiten, verurteilte Verbrecher aus dem Gefängnis zu befreien." Sie war nicht sicher, ob sie ihn zu überzeugen versuchte oder sich selbst.
„Sie haben Jack befreit."
„Auf völlig legalem Wege, mit Governor Thomsons Wissen und seiner Zustimmung", erwiderte sie. „Außerdem ist Jack noch ein halbes Kind und hätte erst gar nicht eingesperrt werden dürfen."
„Genauso wenig wie ich." Das Sprechen fiel ihm ungeheuer schwer. Er schloss erschöpft die Lider.
Seine Stirn lag in Falten, und die Lippen waren fest aufeinander gepresst, woran man erkennen konnte, dass er Schmerzen litt. Genevieve befeuchtete einen Stofflappen und drückte ihn behutsam auf seine Stirn, um ihm Linderung zu verschaffen. Ein unterdrücktes Stöhnen entschlüpfte seinem Mund. Sie nahm das Tuch fort, tunkte es abermals in kühles Wasser und strich damit über sein Gesicht.
Was ist das für ein Mann, der einen jungen Dieb verteidigt, obwohl er sich selbst vor Fieber und Schmerzen kaum auf den Beinen halten kann, fragte sie sich. Er musste gewusst haben, dass er in seiner Verfassung kaum in der Lage sein würde, einen Kampf gegen Wärter Sims zu gewinnen. Außerdem war er noch nicht einmal mit Jack befreundet gewesen. Der Junge hatte ihr erzählt, dass sie während ihrer gemeinsamen Zeit in der Zelle kaum ein halbes Dutzend Worte miteinander gewechselt hatten.
Für einen verurteilten Mörder war
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