Orphan 1 Der Engel von Inveraray
mit Ausnahme seines Rechtsanwalts, der für die Verhandlung aus Inverness angereist war. Die Anklage dagegen war im Stande, Aussagen von mehreren Bekannten vorzuweisen, die zu Protokoll gegeben hatten, dass Lord Redmond für sein aufbrausendes Temperament und seinen Hang zum Alkohol bekannt ist. Wie einige Zeugen bestätigten, hat er sich am Abend des Mordes in einem Gasthaus betrunken und mit dem Wirt angelegt, bevor dieser ihn schließlich hinauswarf."
„Eine Schande", meinte Governor Thomson, der sich in seinem Sessel zurückgelehnt und die wurstigen Finger über seinem Wanst gefaltet hatte. „Mit einem Adelstitel und einem Vermögen gesegnet zu sein und sich so gar nicht in der Gewalt zu haben." Offenbar war er der Meinung, dass ihm diese Segnungen hätten zustehen sollen.
„In der Tat." Genevieve wurde flau im Magen. Wenn der Mann, der oben in ihrem Zimmer lag, so gefährlich war, wie diese Männer behaupteten, dann musste sie ihnen auf der Stelle von ihm berichten, damit sie ihn verhaften und zurück ins Gefängnis bringen konnten. Doch wenn sie zugab, ihm geholfen zu haben, bliebe ihnen keine andere Wahl, als auch sie zu verhaften. Was würde dann aus den Kindern werden? Oliver, Eunice und Doreen würden zweifellos bleiben und sich ihrer annehmen, doch laut ihrer Vereinbarung mit Governor Thomson war sie der alleinige Vormund der Kinder. Es würde ihm gewiss nicht gelingen, das Gericht davon zu überzeugen, die Vormundschaft auf drei ältere Vorbestrafte zu übertragen.
„Da der Junge uns keine Hilfe ist und Miss MacPhail nichts Verdächtiges bemerkt hat, sollten wir uns jetzt auf den Weg machen", schlug Governor Thomson vor und setzte sich in seinem Sessel auf. Er schaute Constable Drummond fragend an. „Nicht wahr?"
„Noch nicht." Constable Drummonds Blick war auf Genevieve geheftet. „Mit Ihrer Erlaubnis, Miss MacPhail, würde ich gern dieses Haus durchsuchen lassen."
Genevieve lief ein eisiger Schauer den Rücken hinunter.
„Insbesondere würde ich mir gern Ihren Wagenschuppen ansehen", erläuterte er, ohne ihre plötzliche Unruhe zu bemerken. „Es ist zwar unwahrscheinlich, dass wir unseren Gefangenen dort aufstöbern, doch wie ich schon sagte, durchsuchen wir alle Außengebäude in der Hoffnung, dort Hinweise auf Lord Redmonds Nachtlager zu entdecken."
Genevieve atmete auf. „Natürlich. Oliver kann Sie dorthin begleiten."
„Das wird nicht nötig sein", entgegnete Constable Drummond, während er sich erhob. „Wir finden uns gewiss allein zurecht."
„Ich führe Sie trotzdem hin." Unerwartet erschien Oliver in der Tür. „Ich will nicht, dass Sie in meinem Garten rumtrampeln. Das mögen die Pflanzen gar nicht, auch wenn sie noch im Winterschlaf sind. Ich hole nur rasch meinen Mantel." Mit diesen Worten verschwand er.
„Noch einer, den Sie nie ändern werden", stellte Constable Drummond fest und strich mit dem Zeigefinger über seine lange dunkle Kotelette. „Ich rate Ihnen, Miss MacPhail, vorsichtig zu sein und ein Auge auf Ihre Wertsachen zu haben, bei all diesen Verbrechern, die unter Ihrem Dach leben. Es wäre ein Jammer, wenn Sie ausgeraubt würden, nachdem Sie ihnen gegenüber eine solche Großzügigkeit gezeigt haben - wie unangebracht diese auch sein mag."
„Die einzigen wahren Schätze, die ich besitze, Constable Drummond, sind meine Kinder", erwiderte Genevieve ruhig. „Alles andere ist ersetzbar. Und niemand hier, einschließlich Oliver, würde im Traum daran denken, etwas aus diesem Haus zu stehlen - oder aus einem anderen."
„Das wollen wir hoffen." Er setzte den Hut auf. „Um Ihret und Ihrer Schützlinge willen. Guten Tag." Er verabschiedete sich mit einem knappen Nicken von Genevieve und stelzte aus dem Zimmer.
Ein eisiger Wind wehte in den Flur, als er die Haustür öffnete.
„Guten Tag, Miss MacPhail", fügte Governor Thomson hinzu, während er ihm nacheilte.
„Na, so was, Sie gehen ohne mich?" Oliver stülpte sich einen zerbeulten Filzhut auf den Kopf und schlurfte hinaus, so rasch ihn seine alten Beine trugen.
Genevieve schloss die Haustür und lehnte sich dagegen, um neue Kräfte zu sammeln, denn das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Dann raffte sie ihre Röcke und stieg langsam die Treppenstufen empor.
Helles Sonnenlicht umflutete seinen Körper und umgab ihn mit wohltuender Wärme. Sie drang durch die saubere Bettdecke und sickerte durch seine Haut bis hinein in die schmerzenden Muskeln und Knochen. Sanft wie eine Liebkosung lockerte die Wärme
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