Orphan 1 Der Engel von Inveraray
Geste auf das schlicht möblierte Zimmer.
Der Gefängnisdirektor warf ihm einen gereizten Blick zu, entledigte sich seines Hutes und seines Mantels und hielt Oliver die beiden Kleidungsstücke hin.
„Sehr freundlich von Ihnen, doch Schwarz ist wirklich nicht meine Farbe", sagte Oliver. „Man sieht darin aus wie 'ne Leiche, Governor, wenn Sie mir die Bemerkung gestatten. Außerdem wollen Sie die Sachen gewiss wiederhaben, wenn Sie gehen."
Die zurückgewiesenen Kleidungsstücke in der Hand, stolzierte Governor Thomson schnaubend vor Wut in den Salon. Constable Drummond folgte ihm, die schmalen Lippen verächtlich aufeinander gepresst, als habe er mit Olivers rüdem Benehmen gerechnet.
„Guten Morgen, Governor Thomson", grüßte Genevieve sie freundlich. „Constable Drummond! Bitte nehmen Sie Platz. Kann ich Ihnen eine kleine Erfrischung anbieten?"
„Das wird nicht nötig sein", entgegnete Constable Drummond, bevor der Gefängnisdirektor das Angebot annehmen konnte.
„Verzeihen Sie, dass wir Sie so früh am Morgen belästigen, Miss MacPhail", entschuldigte sich Governor Thomson und ließ sich mit seinem ausladenden Hinterteil in einen Sessel sinken, „doch leider ist etwas Entsetzliches geschehen.
Lord Redmond ist ausgebrochen."
Genevieve schaute ihn verständnislos an. „Wer?"
„Der Mörder, der mit dem jungen Burschen in der Zelle saß, den Sie gestern Abend mit nach Hause genommen haben, Miss MacPhail", erklärte Constable Drummond.
„Es war Lord Haydon Kent, Marquess of Redmond. Ich glaube, Sie haben vor dem Verlassen der Gefängniszelle ein paar Worte mit ihm gewechselt."
Constable Drummond war ein hoch gewachsener, mürrischer Mann von etwa vierzig Jahren mit altmodisch langem Haar, das ihm fransig über den Hemdkragen hing.
Zwei lange dunkle Koteletten ließen sein strenges Gesicht noch hagerer wirken, als es ohnehin schon war. Genevieve war ihm zum ersten Mal vor einem Jahr begegnet, als sie Charlotte aus dem Gefängnis gerettet hatte, und hatte sogleich Abneigung gegen ihn empfunden. Er war es gewesen, der das arme Kind, damals gerade erst zehn Jahre alt, verhaftet hatte, weil es das Verbrechen begangen hatte, eine Steckrübe und zwei Äpfel aus seinem Garten zu stehlen. Es war Constable Drummonds eiserne Überzeugung, dass alle, die das Gesetz nicht achteten, aufs Schärfste bestraft werden müssten, ganz gleich, ob es sich dabei um Erwachsene oder Kinder handelte; und er hatte es nicht gutgeheißen, dass sie Charlotte in ihre wohlwollende Obhut nahm.
„Natürlich, ich erinnere mich, aber ich wusste nicht, wie er heißt." Irgendwie gelang es Genevieve, eine gelassene Miene aufzusetzen. Der Wärter habe ihn stets mit „Eure Lordschaft" angeredet, hatte Jack gesagt. Ihr eigener Vater war ein Viscount gewesen und ihr ehemaliger Verlobter ein Earl, deshalb ließ sie sich nicht leicht durch Adelstitel und den damit verbundenen lächerlichen Anspruch auf gesellschaftliche, moralische und geistige Überlegenheit blenden.
Dennoch war die Vorstellung einigermaßen verwirrend, dass der nackte Mann, dessen übel zugerichteten Körper sie die ganze Nacht hindurch mit feuchten Tüchern abgetupft hatte, ein Marquess war.
„Nach ihrer Rückkehr aus dem Gefängnis hat meine Magd mir gestern Abend erzählt, der Gefangene aus Jacks Zelle werde vermisst", behauptete Genevieve und legte in gespielter Besorgnis die Stirn in Falten. „Ich hatte gehofft, Sie hätten ihn mittlerweile dingfest gemacht."
„Keine Sorge, er kann nicht weit gekommen sein", antwortete Governor Thomson und rutschte unruhig auf seinem Sessel hin und her. Seine Weste spannte bedenklich an den Knöpfen, die aussahen, als könnten sie jeden Augenblick abplatzen. „Nicht in seinem Zustand."
Offenbar versuchte er nicht nur sie, sondern auch sich selbst davon zu überzeugen.
Es warf beileibe kein gutes Licht auf ihn, wenn ein gefährlicher Mörder in der Nacht vor seiner Hinrichtung aus dem Gefängnis entkam. Genevieve vermutete, dass dieses grobe Missgeschick ihn unter Umständen seine Stellung kosten könnte. Ein beunruhigender Gedanke. Was auch immer seine Fehler sein mochten, sie hatte im Laufe der Jahre eine wertvolle Beziehung zu ihm aufgebaut. Seit Governor Thomson das Gefängnis leitete, wurde sie stets benachrichtigt, wenn ein Kind dazu verurteilt worden war, in seinen modrigen Zellen zu schmachten. Sie konnte nicht sicher sein, dass ein neuer Direktor sich als ebenso entgegenkommend erweisen würde - oder als so
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