Orphan 1 Der Engel von Inveraray
hätte Sie gezwungen, mir Unterschlupf zu gewähren, Sie brutal bedroht, Sie sogar geschlagen, und dass Ihre Angst um Ihr Leben und das der Kinder so groß gewesen sei, dass Ihnen nichts anderes übrig blieb, als sich meinem Willen zu unterwerfen und vorzugeben, ich sei Ihr Ehemann."
Genevieve schüttelte entschlossen den Kopf. „Wenn ich das tue, wird niemand mehr an Ihre Unschuld glauben."
„Falls man mich hier entdeckt, spielt meine Unschuld ohnehin keine Rolle", entgegnete er bestimmt. „Ich kann nicht riskieren, selbst Nachforschungen anzustellen, während man mich für den frisch verheirateten Maxwell Blake hält.
Und wenn Constable Drummond und Governor Thomson erkennen, dass Ihr liebender Gatte in Wahrheit ihr entflohener Sträfling ist, werden sie darüber so in Rage geraten, dass ihnen jegliche Lust vergeht, meine Unschuld in Betracht zu ziehen. Sie werden mich auf der Stelle hinrichten lassen, um die Schmach meiner Flucht und des Täuschungsmanövers mit mir zu Grabe zu tragen."
„Ich werde nicht aussagen, Sie seien ein gewalttätiges Scheusal, denn das sind Sie nicht", widersprach Genevieve. „Wenn man Sie verhaften sollte, werde ich zum Gericht gehen und erklären, was geschehen ist. Ich werde den Richter bitten, Ihren Fall erneut aufzurollen und ..."
„Hören Sie mir zu, Genevieve", unterbrach er sie und sank vor ihr auf die Knie. „Ich weiß, Sie sind eine Kämpfernatur und können sich daher nicht mit Ungerechtigkeiten abfinden. Doch ich könnte den Gedanken nicht ertragen, dass Sie und die Kinder um meinetwillen leiden müssen. Verstehen Sie das? Die Aussicht auf meinen Tod bedrückt mich weniger als die Vorstellung, auch Ihr Leben zerstört zu haben."
Sein Gesichtsausdruck war streng, beinahe so, als versuche er, sie einzuschüchtern und zum Einlenken zu bewegen. Doch es waren seine Augen, die Genevieves Aufmerksamkeit fesselten. Zorn lag darin, verbunden mit der Enttäuschung eines mächtigen Mannes, der es nicht gewohnt war, mehr als einmal um etwas bitten zu müssen. Doch in ihren eisblauen Tiefen konnte man auch einen entsetzlichen Schmerz erkennen - und eine überwältigende Trauer, die auf eine nicht verheilte Wunde schließen ließ. Diese bittere Traurigkeit war es, die Genevieve gefangen nahm, denn sie war ihr so seltsam vertraut, gerade so, als blicke sie in ein Spiegelbild ihrer selbst.
„Nun gut", meinte sie ruhig, obwohl sie genau wusste, dass sie seine Bitte nie erfüllen würde. „Ich werde tun, was Sie verlangen."
Haydon betrachtete sie prüfend. Sie erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Gut." Er erhob sich und durchmaß raschen Schrittes den Raum, mit einem Male ganz erpicht darauf, Abstand von ihr zu gewinnen. Ihm war, als habe er, ohne es zu wollen, einen Teil seiner Seele vor ihr entblößt, und er war es nicht gewohnt, sich irgendjemandem zu öffnen.
„Wollen wir ins Speisezimmer gehen und den Kindern beim Abendessen Gesellschaft leisten?" fragte Genevieve.
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich mich gern zurückziehen und mich ein wenig ausruhen. Ich fühle mich ein wenig müde." Statt zur Tür zu laufen, klammerte er sich am Kaminsims fest und starrte in die Flammen.
„Möchten Sie, dass ich Ihnen etwas hinaufbringe?"
„Nein." Als ihm bewusst wurde, wie barsch sein Ton klang, fügte er hinzu: „Vielen Dank."
„Dann vielleicht später."
„Vielleicht."
Er hat sich von mir entfernt, erkannte sie, überrascht darüber, wie sehr diese Tatsache sie schmerzte. Einen kurzen Augenblick lang hatte sie in seine Seele geschaut und das Gefühl gehabt, sie könne ihn berühren, ohne dass es ihn störte, mehr noch, dass es ihm sogar gefallen würde, wenn sie ihren schlanken Arm tröstend um seine breiten Schultern legte. Ihre Erfahrung mit Männern beschränkte sich auf ihre kurze Verlobungszeit mit Charles, während der es zu einigen enttäuschend leidenschaftslosen Küssen und einem recht unbeholfenen Befingern ihrer Brüste gekommen war. Ihr blonder Verlobter war ihr zwar recht ansehnlich erschienen, als sie ein junges, unerfahrenes Mädchen von achtzehn Jahren gewesen war, doch weder seine stets missbilligende Miene noch sein allmählich teigig werdender Leib ließen sich auch nur im Entferntesten mit Lord Redmonds markanten Gesichtszügen oder seinem gestählten Kriegerkörper vergleichen. Sie hatte ihn - nur in wärmendes Sonnenlicht gehüllt - vor sich stehen sehen und fast jeden Zoll seines herrlichen Körpers mit einem
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