Orphan 1 Der Engel von Inveraray
sie ein kleines Kind. Er führte sie in den Salon und schloss die Türen, damit niemand im Haus ihr Weinen hörte, denn er wusste, dass ihre Verzweiflung nur noch größer werden würde, wenn die Kinder ihren Kummer mitbekämen. Behutsam zog er ihr den schneefeuchten Mantel aus und setzte sie auf das Sofa am Kamin. Ihre Haut war kalt, so als hätten Angst und Erschöpfung und all die Stunden, die sie im Gefängnis und mit fruchtlosen Gesprächen verbracht hatte, die Wärme aus ihrem Blut weichen lassen. Er ging zum Kamin, legte zwei Scheit Holz nach und blies dann in die Glut, bis die Flammen erneut aufloderten. Dann umarmte er Genevieve erneut und wünschte, er könne sie all die entsetzlichen Dinge vergessen machen, die sie hatte durchstehen müssen.
„Wir werden auch ohne Charles' Hilfe einen Anwalt für Charlotte finden", sagte er bestimmt und strich dabei über ihr helles, seidiges Haar.
„Wir können uns keinen Anwalt leisten", schluchzte Genevieve, „und den vom Gericht bestellten Pflichtverteidigern ist es insgeheim nur recht, wenn die Kinder im Gefängnis oder in der Besserungsanstalt landen."
„Charlottes Fall liegt anders", gab Haydon zu bedenken. „Sie hat ein gutes Zuhause und eine Mutter, die sie liebt und sich um sie kümmert - und dann ist da noch die Sache mit ihrem verkrüppelten Bein. Der Richter wird gewiss Milde walten lassen und einsehen, dass es viel besser für Charlotte ist, hierher zurückzukehren, als ins Gefängnis zu gehen."
„Richter Trotter wird an jenem Tag den Vorsitz haben, und er hat Charlotte bereits einmal verurteilt", klärte Genevieve ihn auf. „Sie war erst zehn Jahre alt und mit ihrem Vater beim Stehlen verhaftet worden. Der gewalttätige Trunkenbold zwang sie, umherzuhumpeln und ihre Röcke zu heben, um ihr verkrüppeltes Bein zur Schau zu stellen und Geld von den Leuten zu erbetteln. Und während diese aus falschem Mitgefühl den Kopf schüttelten und sich in kaltherziger Faszination um sie scharten, huschte ihr Vater durch die Menge und stahl die Geldbörsen der Gaffer."
„Wo ist er jetzt?"
„Er wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, die er in Perth absitzt. Und für das Verbrechen, ein Opfer seiner Gier und Gewalttätigkeit zu sein, hat man Charlotte zu vierzig Tagen Haft verurteilt, gefolgt von drei Jahren in einer Besserungsanstalt."
Ihre Stimme bebte, als sie schloss: „Wie können wir Mitleid von einem Richter erwarten, der sich als so grausam erwiesen hat?"
„Doch es ist dir gelungen, Charlotte zu dir zu nehmen, bevor man sie fortschicken konnte", vermutete Haydon.
Sie nickte. „Im Laufe der Jahre habe ich eine Vereinbarung mit Governor Thomson getroffen, und das Gericht hat ihr stets zugestimmt. Er lässt mich wissen, wenn ein Kind, das keine Eltern oder sonstigen Verwandten hat, die sich für es einsetzen können, in sein Gefängnis eingeliefert wird. Wenn es sich keines Gewaltverbrechens schuldig gemacht hat, ist es mir gestattet, seine Vormundschaft zu übernehmen."
Haydon dachte daran, wie erpicht der Direktor darauf gewesen war, dass Genevieve Jack aus dem Gefängnis holte. „Und welchen Vorteil zieht Governor Thomson aus dieser Vereinbarung?"
„Ich zahle ihm eine Entschädigung für seine Mühen."
„Sie meinen ein Bestechungsgeld?"
Sie seufzte. „So könnte man es wohl nennen. Ich unterzeichne einen Vertrag, in dem ich für die Dauer seiner Strafe die volle Verantwortung für das Kind übernehme.
Bricht ein Kind während dieser Zeit das Gesetz oder läuft davon, ist unsere Vereinbarung nichtig, und es muss zurück ins Gefängnis und seine ursprüngliche Strafe in voller Länge absitzen. Governor Thomson teilte mir mit, dies sei der Grund, warum er und Constable Drummond Charlotte nicht freilassen können. Er befürchtet, die Leute würden sich aufregen, wenn er sie laufen ließe, weil jeder weiß, dass Charlotte die Bedingungen unserer Vereinbarung gebrochen hat."
„Vermutlich sorgt er sich eher darum, dass es zu einer Untersuchung kommen und jemand herausfinden könnte, dass er Ihnen diese Kinder praktisch verkauft hat", sagte Haydon nachdenklich.
„Wie auch immer, Charlotte liegt heute Nacht zitternd vor Kälte auf einer harten Holzpritsche, und es gibt nichts, was ich tun kann, um sie zu retten." Ihr stiegen abermals Tränen in die Augen. „Ich habe sie im Stich gelassen", flüsterte sie mit bebender Stimme.
„Nein, Genevieve, das haben Sie nicht." Er legte ihr die Hände auf die schmalen Schultern und zwang sie, ihn
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