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Ort der Angst (German Edition)

Ort der Angst (German Edition)

Titel: Ort der Angst (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mala Wintar
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von sich und stampfte mit seinem Priesterstab auf den Boden, als wolle er ein Urteil verkünden. „Niemals hätte ich auf dich hören dürfen! Wenn der königliche Handwerker nicht behauptet hätte …“ Yunuen hielt inne! Seine trüben Augen richteten sich auf Xaman, als könne er sehen. „Was bin ich nur für ein Narr! Es war alles eine Lüge! Wie hast du den Mann dazu gebracht, mich zu täuschen? Sag die Wahrheit!“
    Xaman schwieg und blickte sich um. Sie waren vollkommen alleine. Außer Vögeln und zirpenden Grillen machte kein weiteres Lebewesen auf sich aufmerksam.
    „Antworte, Elender! Ging es dir überhaupt jemals darum, nach dem Willen der Götter zu handeln, oder hat Ek Balams Abwesenheit, in der du den stellvertretenden König spielen durftest genügt, um dich zu korrumpieren?“, spuckte Yunuen und fuchtelte mit seinem Stecken in der Luft herum.
    Hinter ihm auf dem Boden kauerte sein Diener und hielt sich schützend die Arme über den Kopf. Xaman fragte sich, wie viele Schläge der Alte wohl schon mit dem Stab auf den Kopf des Jungen hatte niederprasseln lassen, um ihn für einen Fehler oder das Verweigern des Gehorsams zu bestrafen. Hatte Yunuen ihn auf diese Weise zum Idioten geprügelt?
    Das dicke Tuch, das dazu dienen sollte, dem Weisen den Speichel abzuwischen, lag im Staub. Xaman ging hin und hob es auf.

 
     
    Kapitel 9
     
    Die vielen Klingen, welche die Seiten des Obsidianschwerts säumten, glänzten schwarz in der Sonne, als Tyun seine Waffe gelangweilt hin und her schwang. Für seinen Geschmack war es schon viel zu lange her, dass ein vorwitziger Dieb es gewagt hatte, in die königlichen Gärten einzudringen. Den Schildarm streckend und wieder anwinkelnd beobachtete Tyun im Gehen, wie die Bemalung seiner Arme dem Spiel der Muskulatur folgte. Er sehnte sich danach, sein Können endlich wieder auch außerhalb des täglichen Routinetrainings unter Beweis stellen zu können.
    Unvermittelt blieb er stehen. Er glaubte, etwas gehört zu haben. Tyun hielt den Kopf schräg und lauschte. Tatsächlich! Da sang jemand! Er setzte sich wieder in Bewegung und folgte den Klängen. Nie zuvor hatte er etwas so Liebliches vernommen. Allmählich erkannte er die Melodie; ein altes Lied, in dem ein Mädchen um ihren Liebsten weint.
    Was für eine wunderbare Stimme! Er fragte sich, wer wohl die Schöne sein mochte, der sie gehörte. Mit etwas Glück war es eine Bedienstete, die er kannte. Vielleicht die liebliche Nicte oder die sinnliche Nohek? In jedem Fall wollte er versuchen, ihr einen Kuss zu stehlen. Freudig straffte Tyun die Schultern und beschleunigte seine Schritte.
    Der Gesang hallte klar durch die Luft und trug ihm die Worte zu; sie erzählten davon, wie man den jungen Krieger in der Schlacht gefangen nahm.
    Tyun musste der Sängerin jetzt schon sehr nahe sein. Zwischen den einzelnen Strophen ertönte immer wieder ein seltsames Geräusch, eine Art dumpfes Stampfen. Gleichzeitig geriet die Stimme der Sängerin ins Stocken. Doch schon im nächsten Moment erklang sie wieder in ungetrübter Vollkommenheit.
    Die Geschichte der melancholischen Weise endete damit, dass die Trauernde den Kopf ihres Geliebten fand. Er steckte auf einem Pfahl. Dort, wo sein Blut den Erdboden tränke, spross der Baum des Lebens. Tod schenkt Leben, Leben schenkt Tod. So verlangte es der ewige Kreislauf.
    Das Lied war zu Ende. Wieder der stampfende Ton. Nach einer kurzen Pause erklang die Stimme erneut und begann von vorn.
    Tyun bog um ein paar weitere Sträucher, erreichte den Teich und befand sich schließlich am Ziel. Zunächst fiel es ihm schwer, die Situation einzuschätzen. Auf dem Boden vor dem alten Feigenbaum lag ein ausgestreckter Körper. Der Wächter blickte auf den zierlichen Rücken einer Gestalt, die sich ihm abgewandt über den Reglosen beugte und sang. Jetzt hob sie den Stab und ließ ihn senkrecht über dem anderen niedersausen. Daher kam das Geräusch also. Tyun packte den Griff seines Schwertes fester, nahm eine kampfbereite Haltung ein und umrundete das Geschehen. Er wollte sehen, womit er es hier eigentlich zu tun hatte. Wie ein Raubtier bewegte er sich lautlos vorwärts. Als er die gesamte Abscheulichkeit der Szenerie erfasste, packte ihn blanke Wut. Dort auf dem Boden lag der ehrwürdige Yunuen; tot. Aus dem aufgerissenen Mund ragten die Zipfel eines Tuchs, der Kiefer wirkte seltsam verrenkt. Was Tyun vor seiner grausigen Entdeckung für ein liebliches Mädchen hielt, entpuppte sich nun als etwas ganz

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