Ort des Grauens
sie durch die offene Tür in den lichtlosen Korridor nach oben ging.
Dann fiel ihr ein, daß sie ja nackt war, und sie kehrte um, um sich ein Höschen und ein T-Shirt anzuziehen.
Es war nicht Candys Mißbilligung, die sie schreckte - oder Candy selbst. In Wahrheit war es so, daß sie seine gewaltsamen Annäherungsversuche sogar willkommen geheißen hätte, denn das wäre sie gewesen, die Vollendung des Spiels zwischen Jäger und Beute, Falke und Maus, Bruder und Schwester, Candy war die einzige wilde Kreatur, in deren Gedanken, deren Bewußtsein sie nicht eindringen konnte. Obwohl wild, war er doch auch ein Mensch und damit nicht erreichbar für ihre übersinnlichen Kräfte. Wenn er jedoch ihre Kehle aufrisse, würde ihr Blut in ihn eindringen, und sie würde ein Teil von ihm sein können -auf die einzige Art, die zwischen ihnen überhaupt möglich war. Umgekehrt war es die einzige Art, in der er in sie würde eindringen können: indem er sie biß, sich seinen Weg mit den Zähnen bahnte - die einzige Art.
In jeder anderen Nacht wäre sie gleich zu ihm gegangen, hätte sich ihm in der Hoffnung nackt gezeigt, daß ihn ihre Schamlosigkeit zumindest herausfordern würde, Gewalt anzuwenden. Doch im Augenblick konnte sie ihren kühnsten Träumen nicht nachhängen, nicht solange Frank in der Nähe und immer noch nicht für das bestraft war, was er ihrem armen Kätzchen angetan hatte, der armen Samantha.
Nachdem sie sich angezogen hatte, kehrte sie in die Halle zurück, ging in der Dunkelheit vorwärts - immer noch in ständigem Kontakt mit Darkle und Zitha und der ganzen Welt der Wilden -und blieb vor der Tür zum Zimmer ihrer Mutter stehen, in das Candy nach ihrem Tod eingezogen war.
Zwischen Schwelle und Tür war ein schmaler Streifen Licht zu sehen. »Candy«, rief sie, »Candy, bist du da?«
Wie eine Erinnerung an vergangene Kriege oder wie die böse Vorahnung auf den endgültigen Krieg erschütterten sengende Blitze und dumpfe Donnerschläge die Nacht. Die Fenster der Bibliothek erzitterten. Es war der erste Donner, den Bobby seit dem schwachen und fernen Grollen vor fast anderthalb Stunden gehört hatte, als sie das Motel verlassen hatten. Trotz des Feuerwerks am Himmel fiel noch kein Regen. Doch obwohl das Gewitter nur langsam vorankam, war es jetzt fast über ihnen. Die Brillanz des Unwetters bildete den idealen Hintergrund für Fogartys Erzählung.
»Ich war enttäuscht von Frank«, sagte Fogarty gerade, nahm eine zweite Flasche Bourbon aus dem geräumigenBarfach und füllte sein Glas erneut. »Überhaupt nicht verrückt. So normal. Aber zwei Jahre später war sie wieder schwanger! Diesmal war die Entbindung genauso unterhaltsam, wie ich es mir von Franks erhofft hatte. Wieder ein Junge, und sie nannte ihn James. Ihre zweite jungfräuliche Geburt, sagte sie, und es erschütterte sie in keiner Weise, daß er eine ebenso üble Mißgeburt war wie sie selbst. Sie sagte, das sei nur ein weiterer Beweis dafür, daß er von Gott sei, der ihm dieselbe Gnade erwiesen habe. Denn er sei auf diese Welt gekommen, ohne daß sie sich in der Verdorbenheit des Sex habe suhlen müssen. Da wußte ich, daß sie total übergeschnappt war.«
Bobby wußte, daß er nüchtern bleiben mußte und war sich über die Gefahr durchaus klar, die zuviel Bourbon nach einer Nacht bedeutete, in der man kaum geschlafen hatte. Doch er hatte das Gefühl, der Alkohol in seinem Blut baue sich genauso schnell ab, wie er ihn trank, zumindest im Augenblick. Er nahm noch einen Schluck, bevor er fragte: »Sie wollen uns doch nicht erzählen, daß dieser bullige Koloß auch ein Hermaphrodit ist?«
»O nein«, entgegnete Fogarty. »Noch schlimmer.«
Candy öffnete die Tür. »Was willst du?« »Er ist hier, hier in der Stadt«, sagte sie. Seine Augen weiteten sich. »Du meinst Frank?« »Ja.«
»Schlimmer«, wiederholte Bobby benommen.
Er stand vom Sofa auf und stellte sein Glas auf den Schreibtisch. Es war noch immer zu Dreiviertel gefüllt, doch ihm war plötzlich klar geworden, daß in diesem Fall nicht mal Bourbon ein adäquates Beruhigungsmittel war.
Julie schien zu dem gleichen Schluß gelangt zu sein und stellte ihr Glas ebenfalls weg.
»James -oder Candy, wenn Sie wollen -wurde mit vier Hoden geboren, statt mit zweien, aber ohne sekundäres männliches Geschlechtsorgan. Nun, bei der Geburt tragen männliche Säuglinge ihre Testikel sicher in der Bauchhöhle, und die Hoden treten später aus, während der frühkindlichen Reifephase. Candys
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