Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ort des Grauens

Ort des Grauens

Titel: Ort des Grauens Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
Vom Netzwerk:
dem die Katze den Tod gefunden harte. Behutsam und äußerst vorsichtig tastete er den Stützpfeiler von oben nach unten ab, an allen vier Seiten, als erwarte er, ein Stückchen zu finden, so heiß, daß es seine Finger versengen würde. Aber obwohl er die gesamte Oberfläche des rauhen Steins und die Mörtelränder geduldig mit den Fingerspitzen betastete, fand er nichts. Es war schon zuviel Zeit vergangen.
    Sogar seine außergewöhnlichen Talente konnten den Steinen nichts entlocken, was von der Aura seines Bruders hätte zurückgeblieben sein können.
    Er eilte über den rissigen, an einigen Stellen geborstenen, abschüssigen Gartenweg zurück, ließ die Kälte der Nacht hinter sich, ging wieder in das erstickend heiße Haus und in die Küche, in der seine Schwestern in der Katzenecke auf den Decken saßen. Verbina hockte hinter Violet, einen Kamm in der einen, eine Bürste in der anderen Hand, und striegelte das flachsfarbene Haar ihrer Schwester.
    »Wo ist Samantha?« fragte Candy.
    Sie neigte den Kopf und schaute ihn ganz perplex an.
    »Das hab ich dir doch gesagt. Tot.«
    »Wo ist der Kadaver?«
    »Hier«, sagte Violet und vollführte mit beiden Händen eine ausladende Geste, die die bewegungslosen Katzen einschloß, die zusammengerollt oder ausgestreckt neben ihr und um sie herum lagen.
    »Welche?« erkundigte sich Candy. Die Hälfte der Tiere lag so still, daß jedes von ihnen das tote hätte sein können.
    »Alle«, erklärte Violet. »Sie alle sind jetzt Samantha.«
    Das hatte Candy befürchtet. Jedesmal, wenn eine der Katzen starb, versammelten die Zwillinge die anderen um sich, legten den Kadaver in die Mitte und befahlen den lebenden, die tote aufzuessen - und das ohne ein Wort.
    »Verdammt«, sagte Candy.
    »Samantha lebt noch, sie ist immer noch ein Teil von uns«, sagte Violet. Ihre Stimme war so tief und flüsternd wie zuvor, klang jedoch träumerischer als gewöhnlich. »Keins unserer Miezekätzchen verläßt uns jemals wirklich. Ein Teil von ihm -oder ihr -bleibt in jeder von uns zurück -und wir alle sind stärker deswegen! Stärker und reiner. Und immer zusammen, für immer und ewig.«
    Candy fragte nicht, ob seine Schwestern sich an dem Festschmaus beteiligt hatten, denn er kannte die Antwort bereits. Violet leckte sich die Mundwinkel, als wolle sie sich den Geschmack ins Gedächtnis rufen, und ihre feuchten Lippen glänzten. Einen Moment später glitt auch Verbinas Zunge über die Lippen.
    Manchmal hatte Candy das Gefühl, die Zwillinge gehörten einer völlig anderen Spezies an als er, denn er konnte sich ihre Ansichten und ihr Verhalten nur ganz selten erklären. Und wenn sie ihn anschauten - Verbina in immerwährendem Schweigen -, verrieten ihm ihre Gesichter und Augen nichts über ihre Gedanken und Gefühle. Für ihn waren sie ebenso unergründlich wie ihre Katzen.
    Das, was die Zwillinge mit den Katzen verband, konnte er nur vage begreifen. Da es das Geschenk seiner seligen Mutter an sie war, genauso wie seine vielen Talente das großzügige Vermächtnis seiner Mutter an ihn waren, hinterfragte er weder Richtigkeit noch Normalität dieses Verhaltens.
    Trotzdem hätte er Violet am liebsten verprügelt, weil sie den Kadaver nicht für ihn aufgehoben hatte. Sie hatte gewußt, Frank hatte ihn berührt, und daß er deshalb für Candy wichtig war, aber sie hatte ihn nicht aufbewahrt, bis er erwachte, war nicht erschienen, um ihn zu wecken. Er hätte sie gern zerschmettert, doch sie war seine Schwester, und seinen Schwestern konnte er nicht weh tun, er mußte für sie sorgen, sie beschützen. Seine Mutter beobachtete ihn.
    »Was ist mit den Teilen, die nicht eßbar waren?« erkundigte er sich.
    Violet deutete in Richtung Küchentür.
    Er schaltete die Außenbeleuchtung ein und trat auf die rückwärtige Veranda hinaus. Kleine Knochen und Teile des Rückgrats lagen wie ein paar seltsam geformte Würfel auf den ungestrichenen Dielen. Die Veranda war nur nach zwei Seiten hin offen, um ihre beiden anderen Flanken winkelte sich das Haus, und in der Nische, in der sich die Hauswände trafen, fand Candy ein Stückchen von Samanthas Schwanz und Fetzen ihres Pelzes, die der Nachtwind dorthin geweht hatte. Die halb zerquetschte Hirnschale lag auf der obersten Stufe. Er hob sie auf und ging hinunter zu dem ungemähten Rasen.
    Der Wind, der sich seit dem Spätnachmittag etwas gelegt hatte, hörte plötzlich ganz auf. Die kühle Nachtluft hätte gewiß auch die leisesten Geräusche weit getragen, doch die

Weitere Kostenlose Bücher