Ort des Grauens
die Bedeutung ihrer Worte in ihm wider, als wäre ein Messinggong mit einem gewaltigen Schlegel angeschlagen worden. Er stand so abrupt auf, daß er beinahe seinen Stuhl umgestoßen hätte. »Er war hier? Im Haus?«
Weder Verbina noch die Katzen zuckten zusammen, als der Stuhl krachend zurückfiel. Auch die Schärfe seiner Stimme entlockte ihnen keine Regung. Sie lagen da schläfrig, indifferent.
»Draußen«, erwiderte Violet, die immer noch neben ihrer liegenden Schwester auf dem Boden saß und an den Fingernägeln des anderen Zwillings arbeitete. Sie hatte eine tiefe, leise, fast flüsternde Stimme. »Hat das Haus von der Kirschmyrtenhecke aus beobachtet.«
Candy starrte durch das Fenster in die Nacht. »Wann?«
»Gegen vier Uhr.«
»Warum hast du mich nicht geweckt?«
»Er war nicht lange da. Er ist niemals lange da. Ein, zwei Minuten, dann geht er. Er hat Angst.«
»Du hast ihn gesehen?«
»Ich wußte, daß er da war.«
»Du hast nicht versucht, ihn aufzuhalten?«
»Wie könnte ich?« Sie wirkte jetzt gereizt, aber ihre Stimme war so verführerisch wie eh und je. »Die Katzen sind ihm aber gefolgt.«
»Haben sie ihn verletzt?«
»Ein wenig. Nicht schlimm. Doch er hat Samantha getötet.«
»Wen?«
»Unser armes kleines Miezekätzchen. Samantha.«
Candy kannte die Katzen nicht beim Namen. Ihm waren sie immer nicht nur wie ein ganzes Rudel erschienen, sondern wie eine einzige Kreatur, weil sie sich meist wie eine einzige Katze bewegten und augenscheinlich wie eine einzige dachten.
»Er hat Samantha umgebracht. Hat ihren Kopf gegen einen der steinernen Stützpfeiler am Ende des Weges geknallt.« Jetzt endlich schaute Violet von der Hand ihrer Schwester auf. Das Blau ihrer Augen schien nun blasser, fast eisig. »Ich will, daß du ihm weh tust, Candy. Ich will, daß du ihm wirklich schlimme Schmerzen bereitest, so wie er unserer Katze wehgetan hat. Es ist mir ganz egal, daß er unser Bruder ist...«
»Er ist nicht mehr unser Bruder, nicht nach dem, was er getan hat«, unterbrach Candy sie zornig.
»Ich will, daß du ihm das antust, was er unserer armen Samantha angetan hat, Candy. Ich will, daß du seinen Kopf zerschmetterst, seine Hirnschale zertrümmerst, bis sein Hirn herausspritzt.«
Sie fuhr leise fort, doch er war gefesselt von ihren Worten. Manchmal, wie jetzt auch, wenn ihre Stimme sogar noch sinnlicher war als üblich, schien sie nicht nur lauter zu werden in seinen Ohren, sondern geradezu in seinen Kopf hineinzukriechen, sich sanft wie ein Dunstschleier, ein Nebel auf sein Hirn zu legen. »Ich möchte, daß du ihn erschlägst, ihn zermalmst, auf ihn einhämmerst, ihn in Stücke reißt, bis nur noch ein Häufchen von zersplitterten Knochen und zerfetzten Eingeweiden übrigbleibt. Und ich will, daß du ihm die Augen herausreißt. Ich will, daß ihm leid tut, daß er Samantha umgebracht hat.«
Candy schüttelte sich. »Wenn ich ihn erwische, bringe ich ihn um, klar, aber nicht wegen eurer Katze. Sondern wegen unserer Mutter. Erinnerst du dich denn nicht, was er ihr angetan hat? Wie kannst du daran denken, eine Katze zu rächen, nachdem er immer noch nicht für das bezahlt hat, was er unserer Mutter vor sieben Jahren angetan hat?«
Sie wirkte betroffen, wandte das Gesicht ab und schwieg.
Die Katzen strebten von der liegenden Verbina fort.
Violet legte sich halb auf ihre Schwester, lag halb neben ihr. Ihr Kopf ruhte auf Verbinas Brüsten. Ihre nackten Beine waren mit den Beinen der Schwester verschlungen.
Verbina schien ein wenig aus ihrem tranceähnlichem Zustand zu erwachen und streichelte das seidige Haar ihrer Schwester.
Die Katzen kehrten zurück und kuschelten sich an die Zwillinge, wo immer sie ein warmes Fleckchen finden konnten.
»Frank war hier«, sagte Candy laut, aber mehr zu sich selbst und seine Hände ballten sich zu Fäusten.
In ihm wuchs Wut, eine gewaltige Wut. Es war, als wüchse sich ein kleines Sturmtief, weit draußen auf der See, zu einem großen Hurrican aus. Wut war jedoch eine Emotion, der er sich nicht hingeben durfte; er mußte sich unter Kontrolle halten. Ein Sturm der Wut würde die Saat dieses dunklen Bedürfnisses, das ihn trieb, aufgehen lassen. Seine Mutter würde damit einverstanden sein, daß er Frank tötete, denn Frank hatte die Familie verraten. Sein Tod würde der Familie nutzen. Doch wenn Candy seine Wut auf seinen Bruder zur Rage anwachsen ließ und dann nicht in der Lage war, Frank zu finden, würde er jemand anderen töten müssen, weil
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