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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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die Stimme. Und: »Sie hätten nicht hier runterkommen sollen.«
    »Und doch bin ich hier«, sagte Joe.
    »Ja«, wiederholte die Stimme. »Ein Jammer.«
    Die Pistole mit beiden Händen umfassend, ging Joe in die Hocke. Vor sich hörte er ein krabbelndes Geräusch, etwas Schweres, das gezogen wurde.
    »Tötet ihn«, sagte die erste Stimme.
    Ein Klicken.
    Gelbe Lichter gingen an, blendeten ihn, und er feuerte, ohne hinzusehen, nur nach Gehör.
    Der Lärm von Pistolenschüssen, nicht seine. Er rollte zur Seite, drehte sich um, schoss erneut, einmal, zweimal. Etwas traf ihn am Arm, warf ihn zu Boden. Blut pochte in seinen Ohren.
    Etwas Metallenes fiel zu Boden. Joe machte die Augen auf, musste gegen das grelle Licht mit den Tränen kämpfen. Er lag auf dem Bahnsteig, und vor ihm am Bahnsteigrand war ein Mann zusammengesackt. Vor Joes Augen fiel der Mann langsam vorwärts, auf die alten Schienen zu. Als er auf dem Gleis aufschlug, schien sein Körper zu verschwinden.
    Joe blinzelte, während seine Augen sich an das Licht gewöhnten. Sein Arm schmerzte; er konnte ihn nicht bewegen. Er berührte ihn mit der anderen Hand, und dann waren seine Finger voll Blut. Vor ihm ein Mann mit schwarzen Schuhen, die hingestreckten Füße senkrecht nach oben. Joe stützte sich auf einen Arm, stand auf, nahm seine zu Boden gefallene Waffe wieder an sich. Er ging zu dem Mann mit den schwarzen Schuhen. In dessen Brust klaffte ein Loch, aus dem Blut herausschoss. Der Mann atmete flach. Joe hockte sich neben ihn hin, legte ihm die Hand auf die Stirn, strich ihm das schweißtriefende Haar zurück. Die Augen des Mannes gingen auf, richteten sich auf Joe. Sein Mund bewegte sich, formte sich zu einem Lächeln. »Ich gehe voraus und warte auf Sie«, flüsterte der Mann mit den schwarzen Schuhen, »in anderem Paradies.«
    Dann war er weg, und Joe stand auf, und als er sich umdrehte, sah er, nur für einen Moment, ehe die Lichter schwächer wurden und ausgingen, zwei weitere leere Blutlachen vor sich, da, wo die schweigenden Beobachter gestanden hatten.
    Ohne seine Schmerzen zu beachten, zog er dann seine Zigarettenschachtel hervor, schüttelte einhändig eine heraus und steckte sie sich in den Mund.
    Im Dunkel einer Gruft ging klickend sein Feuerzeug an, die winzige Flamme tanzte.
    Er zündete sich die Zigarette an, blies Rauch aus. Lange stand er da, ohne etwas zu sehen. Dann begann er, sich langsam vorwärtszutasten, auf die Treppen und die saubere, erleuchtete Nacht zu.

Blau auf schwarz, wie ein Bluterguss
    Straßenlaternen, die den dunklen Asphalt entlang Schicksale warfen. Blutige Gedärme, Tierknochen in sonderbaren Formen, durcheinandergeschüttelt und verstreut, die Zukunft vorhersagend. Oben Wolken, keine Sterne, der Mond unsichtbar. Durch diese schäbigen Straßen muss ein Mann gehen. Joe, einer Spur aus Gedärmen folgend, dem Geruch von altem Blut, im Mund einen Rostgeschmack. Über der Erde saubere Luft atmend. In seinem Kopf: Flugzeuge krachen in Gebäude, Busse explodieren, Züge kommen kreischend zum Stehen, ein ganzes öffentliches Verkehrsnetz des Todes.
    Hier oben ging es seinem Arm besser. Im Licht einer Straßenlaterne betrachtete er ihn und musste beinahe lachen – die Kugel hatte ihn lediglich gestreift. Er riss einen Streifen Stoff von seinem Hemd ab und band ihn um die Wunde. Unten hatte es schlimmer ausgesehen. Der Schmerz war nicht schlimm. Schlimm war alles andere.
    Vier Männer hinter sich gelassen. Nötig: ein Drink. Nötig: Geräusch, Musik. Nötig: Leben um ihn herum. Stattdessen wanderte er durch eine Welt in Schwarz-Weiß. Schatten huschten ihm kreuz und quer übers Gesicht. Der Gestank von Blut wie Klumpen in seinen Nasenlöchern.
    Am St. Giles Circus fast kein Verkehr – ihm war, als könnte er die alten Leichen schwingen sehen. Soho Square still, leer, hohe schweigende Gebäude, die mit Gleichgültigkeit in ihren Fenstern herabblickten.
    Joe zündete sich eine neue Zigarette an, lehnte sich an einen dunklen Baum, lauschte auf die Stille. Irgendwo in der Ferne ein Licht, lockend, blau auf schwarz, wie ein Bluterguss. Vier Männer hinter sich gelassen. Nebel: auf der Straße, in seinem Kopf. Ein feuchtkalter, süßer, widerlicher Geruch. Der Mann mit dem Kastorhut trug im Dunkeln eine Laterne, die nichts beleuchtete als ihn selbst. Das blaue Licht lockte: Joe folgte.
    Durch leere Straßen. Jetzt war die Zeit der Toten, Nachtschicht. Die Züge galoppieren entlang der Schienen nach Hause, der Nebel verfangen in

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