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Osama (German Edition)

Osama (German Edition)

Titel: Osama (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lavie Tidhar
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deutend. Der Barkeeper, grinsend mit einem leichten russischen Akzent: »Darüber streiten wir uns lieber nicht.«
    Joe zuckte die Achseln, drehte sich auf seinem Sitz um, musterte das sitzende Publikum.
    Eindrücke: Schaufensterpuppen in der Auslage eines Geschäfts. Nein, das war’s nicht. Aber irgendetwas an ihnen kam ihm nicht richtig vor. Gitterförmige Schatten fielen auf erhobene, erwartungsvolle Gesichter. Der Eindruck eines sehnsüchtigen Wartens, die Augen, die in eine weitere Ferne starrten. Kleider, die nicht richtig passten. Die Vorstellung eines gefällten Baums, die Wurzeln aus dem Boden gerissen, hilflos in die Luft ragend. Erwartungsvolle Menschen – sie sahen aus, als gehörten sie nicht hierhin, nirgendwohin.
    Er dachte: Flüchtlinge.
    Der Klavierspieler, der von Liebe und Ruhm sang – das Singen hörte auf, Klaviertasten klimperten ins Nichts hinein. Der Barkeeper: »Sie kommt.«
    Stille im Blue Note. Das Licht noch weiter gedämpft, ein einziger Projektor – ein Lichtkegel, der die Bühne einfing.
    Joe sagte: »Immer her damit …«, auf den Whisky zeigend – mehr Geld auf den Tresen, doch der Barkeeper hörte nicht zu.
    Das Klavier spielte wieder, verstummte.
    Joe, wartend.
    Ein einziger Ton auf einer Gitarre, in der Luft schwebend.

Über dem Regenbogen
    Ein feiner Dunst, ein Nebel fiel auf die Bühne herab. Düsen in der Decke, die sich wie Blumen öffneten. Das herabfallende Wasser – ein Sprühregen, ein Schauer. Das Licht hob, in Hunderten winziger Regenbögen glitzernd, jeden einzelnen Wassertropfen hervor. Er sah sie.
    Sie kam auf die Bühne, große Augen, braunes Haar, spitze, anliegende Ohren, und im Blue Note herrschte eine Stille wie in einem leeren, erwartungsvollen Grab. Die junge Frau sah das Publikum nicht an. Wie durch Zauberhand tauchte auf der Bühne ein Hocker auf. Joe betrachtete sie durch den Nebel und den konzentrierten Lichtstrahl hindurch, und in seinem Inneren schmerzte etwas, und er griff nach dem Whiskyglas, zögerte jedoch. Die Frau setzte sich. Die Gitarre war von einer hellen Farbe. Sie zupfte ein paar Saiten. An einem Tisch in der Nähe seufzte jemand.
    Die Frau sang. Hinterher fiel es Joe schwer, sich an ihren Gesang zu erinnern, die Wörter, die Musik, die klang wie ein Heulen und Zähneknirschen und Wehklagen, als würde sie winzige Männchen mit winzigen Messern in seine Eingeweide schicken, um ihn fertigzumachen. Sie sang von einem Ort über dem Regenbogen; Finger, die den Saiten Traurigkeit entlockten, obwohl das gar nicht notwendig war: In dieser Nacht lag sie über dem Publikum, berührte mit eisigen Fingern die Nacken von Ausgewanderten und einem einsamen Detektiv, dessen Hand beim Griff nach dem Glas in der Luft erstarrt war. Sie sang von einem Ort, wo die Wolken weit weg waren, und als sie sang, öffnete sie die Augen und blickte in Richtung Bar, und sie sah Joe, und er sah sie, und die winzigen Männchen mit den winzigen Messern bearbeiteten ihn noch heftiger, zerschnitten ihn unter Brabbeln und Brummeln. Sie sang von einem Ort jenseits des Regenbogens, einem Ort, an den sie nicht gehen oder von dem sie nicht zurückkehren konnte. Durch den wässrigen Film hindurch blickte sie Joe an, und ihre Finger auf den Saiten waren eine intime Erinnerung, die ihm vollkommen präsent war. Sie sang von einem Ort über dem Regenbogen, einem Ort, so weit weg und doch so nah, so nah, dass man ihn fast berühren konnte. Sie sang – er dachte, sie sänge – für ihn, ihn bittend, sie zu finden.
    Als es vorbei war, legte sich Stille über die Zuhörer, einem Netz gleich, das seinen Fang aus stummen, silbern geschuppten Fischen aus der Tiefe des Meeres heraufschleppte. Die Frau ließ die Hand sinken, und die letzten Töne der Saiten hingen, noch eine ganze Zeitlang unvollendet, in der Luft. Dann stand sie auf und verschwand hinter der Bühne, der künstliche Regen hörte auf zu fallen, die Lichter gingen wieder an, und Joes Hand führte ihren Weg zu dem Glas zu Ende, nahm es, und er leerte es in einem Zug und spürte, wie seine Augen brannten.
    Hinter ihm sagte eine Stimme: »Sie sind also der Detektiv«, und Joe drehte sich um.
    »Ich bin Rick«, sagte der Mann. Er trug ein weißes Abendsakko und rauchte.
    »Ich bin betrunken«, sagte Joe, und der Mann lachte. »Hat Ihnen die Show gefallen?«
    »Nein.«
    Rick nickte. » Joie de vivre ist etwas, was hierzulande fehlt.«
    »Genießen Sie das Leben, Mr. Rick?«
    »Früher schon.«
    Der Mann am Klavier begann wieder

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