Oscar
sie tagelang nicht geschlafen. Ihre Bluse war nass von Tränen und ganz zerknittert, weil sie Stunde um Stunde auf dem Stuhl neben dem Bett ihrer Mutter verbracht hatte. Ich wollte etwas sagen, um ihr den Verlust zu erleichtern, aber schon zum zweiten Mal an diesem Tag fiel mir nichts ein. Deshalb war ich dankbar, als Kathy selbst das Schweigen brach.
»Dr.Dosa, ich möchte Ihnen für alles danken, was Sie für meine Mutter getan haben«, sagte sie.
Sie wischte sich mit dem Ärmel die Augen aus und setzte sich wieder ans Bett. Dann ergriff sie die Hand ihrer Mutter und hielt sie fest, wie sie es vorher getan hatte. Die Bewegung störte Oscar, der selber ziemlich erschöpft aussah. Blinzelnd sah er Kathy an.
»Ist dieser Kater nicht unglaublich?«, fragte Kathy.
»Ich habe gehört, er war hier, als Ihre Mutter gestorben ist«, erwiderte ich.
Durch ihre Tränen hindurch lächelte sie kurz.
»Ja, wir sind jetzt richtige Freunde geworden«, sagte sie und tätschelte Oscar am Kopf. Der nahm das erfreut hin und schmiegte sich in ihre Hand.
»Die Hospizschwester und die Pfarrerin haben mir erzählt, er hat das nicht zum ersten Mal getan«, sagte sie.
»Ja«, bestätigte ich, »das geht nun schon etwa ein Jahr so, habe ich gehört.«
»Er ist eben ein ganz besonderer Kater.«
»Sieht ganz so aus«, sagte ich und merkte, dass ich das allmählich selber glaubte.
Ich legte meine Hand auf die von Mrs.Sanders, um mich von meiner Patientin zu verabschieden. Weder Kathy noch ich sagten ein Wort. Auf dem Bett lag leise schnurrend Oscar. Nach mehreren Minuten stellte ich schließlich die Frage, über die ich seit meinem Gespräch mit Mary nachgedacht hatte.
»Kathy, war es in Ordnung, dass Oscar am Ende hier war?«
Sie sah mich einen Augenblick an und sagte dann:
»Dr.Dosa, für mich ist Oscar wie ein Engel. Er war für meine Mutter da, und nun ist er für mich da. Mit Oscar an der Seite … tja, da fühle ich mich wohl nicht so sehr allein. Es ist schwer zu erklären, aber bei manchen Tieren glaubt man einfach zu spüren, sie begreifen, was vor sich geht. Vor allem aber akzeptieren sie es einfach. Irgendwie hat Oscar mir das Gefühl vermittelt, dass dies alles ganz natürlich ist. Und das ist es ja auch, nicht wahr? Wenn die Geburt ein Wunder ist, ist dann nicht auch der Tod ein Wunder? Meine Mutter … ihr Kampf ist nun vorüber. Endlich ist sie frei.«
Daraufhin sah sie mich an und wartete sichtlich auf eine Antwort, aber ich ließ mir nicht anmerken, was ich dachte. So richtig wusste ich das eigentlich selber nicht.
»Meine Mutter wollte nie so leben, wie sie am Ende gelebt hat«, fügte Kathy hinzu. »Sie war eine stolze Frau. Das können Sie nicht wissen, weil Sie sie früher nicht kannten, aber sie hatte einen ungeheuren Stolz. Sie hat sich stets modisch gekleidet und hatte immer einen Scherz auf den Lippen.«
Sie lächelte. Vielleicht erinnerte sie sich an einen Scherz ihrer Mutter, den sie mir allerdings nicht mitteilte.
Als ich Kathy betrachtete, wusste ich, dass sie alles gut überstehen würde. Die kommenden Tage konnten hart werden, aber dann würde sie bestimmt bald das nächste Kapitel in ihrem Leben aufschlagen – eines, zu dem kein täglicher Besuch bei uns im Pflegeheim mehr gehörte.
Mit dem Bewusstsein, dass unsere Beziehung nun wohl beendet war, verabschiedete ich mich ein letztes Mal von Kathy.
»Passen Sie gut auf sich auf«, sagte ich.
Kathy nickte, als ich ging, dann versank sie wieder in ihren Gedanken. Mit der Hand strich sie dabei behutsam über Oscars Rücken.
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Katzen sind Kenner der Behaglichkeit.
James Herriot
4
A ls ich einige Tage später ins Heim kam, saß Mary am Schreibtisch des Stationszimmers und bürstete Oscar das Fell. Wie er da in seiner ganzen Pracht dalag, sah er wie ein Boxer nach einem wichtigen Kampf aus – oder, angesichts seiner Mähne, eher wie ein Wrestling-Star.
»Die letzten Tage war er ziemlich müde von seinen Nachtwachen«, sagte Mary.
»Auf einem Bett zu liegen und zu schlafen ist ja auch wirklich harte Arbeit.«
»Sie lachen darüber, David, aber Oscar ist nachher wirklich immer ziemlich müde. Es ist, als wäre er im Dienst, wenn jemand stirbt, und anschließend ist er erschöpft.«
Ich rollte die Augen, worauf Mary immer genauso allergisch reagierte wie meine Frau.
»Früher, auf dem Bauernhof, waren die Katzen nicht besser dran als der Wachhund, wissen Sie?«, sagte sie, während sie Oscar weiter bürstete. »Sie mussten sich ihr
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