Ostfriesengrab
jetzt nach dem Schlüssel, oder was?«
Sekunden später startete der Mercedes.
Ann Kathrin wollte mit dem Handy Weller und die Kollegen informieren, aber diesmal waren die Regentropfen nicht ihr Freund. Das Display erlosch, noch bevor sie die Kurzwahltaste gedrückt hatte. Sie begriff augenblicklich, dass sie auf sich allein gestellt war. Sie reckte ihr Gesicht weiter nach oben, den schwarzen Wolken entgegen, und tastete sich mit ausgestreckten Armen zur Hecke vor.
Wenn ich immer an der Hecke entlanggehe, muss ich zum
Drehkreuz am Eingang zurückkommen, folgerte sie. Sie musste husten und kämpfte gegen einen Brechreiz an. Nach wenigen Minuten fragte sie sich, ob sie nicht in die falsche Richtung ging. Führte dieser Weg immer tiefer in den Park hinein? Hatte sie sich in der Auseinandersetzung mit Meuling gedreht?
Doch dann stieß sie gegen das Drehkreuz. Sie atmete auf. Schließlich war sie beim Schlosstor. Sie krümmte sich, weil sie so dringend zur Toilette musste. Dann spürte sie endlich den Asphalt der Straße unter ihren Füßen. Jetzt wurde es gefährlich. Das Pfeifen des Windes, das Klatschen der Regentropfen auf die Blätter schienen immer lauter zu werden. So konnte sie unmöglich hören, ob sich ein Wagen näherte, und sehen konnte sie erst recht nichts.
Sie blieb am Straßenrand stehen, winkte mit den Armen und schrie: »Hilfe! Hilfe! Frank! Hilfe!«
Vor ihrem inneren Auge erschien das Bild von Paul Schrader, Jörg Benninga und Frank Weller. Sie spielten lachend, umgeben von einer Qualmwolke, Skat. Franks Gesicht war vor Freude gerötet. Er rauchte bereits die dritte Zigarette und nahm seine Kollegen nach Strich und Faden aus. Schrader schimpfte: »Ich verliere hier ein Monatsgehalt«, und ihr Frank feixte: »Na, das kann ja nicht so viel sein.«
»He, Jungs«, sagte sie ganz leise zu sich. »Es ist ernst. Verdammt ernst. Holt mich hier ab.«
Die Wirklichkeit war nicht ganz so lustig wie in Ann Kathrins Vorstellung. Die drei saßen im Gefangenentransporter fest und beschuldigten sich gegenseitig, die Misere verursacht zu haben.
Paul Schrader, der Hobbyheimwerker, der seine freien Nachmittage mit Vorliebe in Aurich im Baumarkt verbrachte, begann die Verkleidung der Tür zu lösen.
Weller versuchte, übers Handy Ann Kathrin zu erreichen und wunderte sich gar nicht, dass es nicht klappte. Vermutlich hatte
sie ihr Handy auf lautlos geschaltet, während sie versuchte, ihre Chance bei Meuling zu nutzen.
»Sie geht nicht ran«, fluchte Weller.
»Wir müssen uns selbst befreien«, stellte Paul Schrader fest.
Jörg Benninga fragte: »Welchen Kollegen außer Ann Kathrin können wir noch anrufen?«
»Wie meinst du das«, fuhr Weller ihn an, »welchen Kollegen können wir außer Ann Kathrin noch anrufen? Meinst du einen Kollegen, der sich nicht vor Lachen in die Hose macht, weil wir uns in diese bescheuerte Situation gebracht haben? Einen, der es nicht gleich herumtratscht und zur schönsten Anekdote des Jahres macht?«
»Genau so einen.«
»So einen gibt’s aber nicht!«, schrie Weller.
»Deshalb musst du mich doch nicht so anbrüllen.«
Ann Kathrin entschied sich, die Straße zu überqueren. Sie konnte nicht länger warten. Die Fahndung musste augenblicklich beginnen. Doch wichtiger als die Frage, wie Meuling wieder eingefangen werden konnte, waren für Ann Kathrin die Sätze, die er ihr gesagt hatte. Einerseits war sie nicht bereit, auch nur ein einziges Wort davon zu glauben, andererseits war der Keim des Zweifels in sie gesetzt worden. Konnte es sein, dass ihr Vater das Leben mit dem kleinen Gehalt leid gewesen war? Hatte sein ständiger Kontakt zu Kriminellen sein Wertesystem verschoben? Wollte er mit ein paar Hunderttausend extra vorzeitig in Rente gehen?
Ann Kathrin versuchte, die Augen aufzureißen, aber sie sah nichts. Ein ätzender Schleier verklebte ihr Sichtfeld.
Sie lauschte. Entweder hatte sie sich an das Prasseln des Regens und an den Wind gewöhnt oder das Wetter räumte ihr gerade eine kleine Chance ein. Sie hörte kein Auto. Sie rannte los und kam lebendig auf der anderen Straßenseite an.
Die Ein- und Ausfahrt des Parkplatzes wurde durch einen Schlagbaum geschützt. Ann Kathrin knallte mit der Hüfte dagegen. Der Schmerz jagte durch ihren Körper. Sie spürte ihn bis in die Nase hinein. Dann irrte sie über den Parkplatz und versuchte, den Gefangenentransporter zu ertasten.
Sie hatte die Orientierung verloren. Sie war keine zwei Meter von Weller entfernt, aber sie
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