Ostfriesengrab
Lübke hat sie auch bereits informiert.«
»Wer soll das sein? Was hat der damit zu tun?«
»Keine Ahnung. Sie sprach seinen Namen aus, als sei er Gott persönlich. Ich nehme an, sie hat gute Kontakte ins Justizministerium. Macht euch nichts vor: Ihr habt die Sache vergeigt! Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was die Dame euch vorwirft, dann ist er noch heute Nachmittag ein freier Mann. Und du, Ann Kathrin, hast ein Verfahren am Hals. Eigentlich müsste
ich dich jetzt auffordern, deine Dienstwaffe abzugeben, aber die hast du ja nicht mal mehr. Sie übergibt deine Waffe der Staatsanwaltschaft. Als Beweis.«
Als Ann Kathrin mit Weller Ubbo Heides Büro verließ, sagte sie: »Das ist der schlimmste Tag meines Lebens, Frank.«
Aber da wusste sie noch nicht, was vor ihr lag.
Weller wollte Ann Kathrin etwas Gutes tun. Ich werde jetzt für sie da sein, dachte er. Für sie kochen, ihr zuhören, ihr die Füße massieren, ihr geben, was sie brauchte. Ich werde ihr keine Vorwürfe machen. In einer Krise braucht man jemanden, der zu einem hält. Jemanden, der einen nicht verurteilt. Aus der Endphase seiner Ehe wusste er, wie es sich anfühlte, wenn man plötzlich nur noch unrecht hat.
Er kaufte im »Krabbenkutter« im Muschelweg in Norddeich eine große Portion Muschelfleisch. Während er es mit Zwiebeln und Knoblauch in die Pfanne haute, stand Ann Kathrin vor dem Kühlschrank, öffnete das Eisfach und sah die Doornkaatflasche an. Sie nahm ein weiß gefrorenes Glas heraus und stellte es oben auf den Kühlschrank. Aber dann entschied sie anders. Sie wollte einen klaren Kopf bewahren. Gerade jetzt.
Fast wütend schlug sie die Kühlschranktür wieder zu. Das gefrorene Glas vergaß sie. Es taute langsam auf.
Trotz der Fußbodenheizung und einer heißen Badewanne wurde Ann Kathrin nicht mehr wirklich warm. Sie fror von innen heraus, als hätte sie eine Eismaschine in ihrem Körper, die ständig arbeitete und immer mehr Eiswürfel in ihre Gedärme drückte.
Dann stocherte sie in ihrer Muschelpfanne herum. Weller schämte sich fast, weil er mit solchem Heißhunger aß, während Ann Kathrin scheinbar nur ihm zuliebe vor dem Teller sitzen blieb. Eine dicke Träne löste sich und fiel ins Muschelfleisch.
Ann Kathrin hob mit der Gabel eine Miesmuschel hoch und
sah sie an, als ob darin sämtliche Geheimnisse der Welt verborgen wären.
»So fühle ich mich«, sagte Ann Kathrin. »Völlig nackt und schutzlos. Als hätte man mich aus dem Gehäuse gezerrt und gar gekocht. Und jetzt warte ich nur noch darauf, dass mich jemand genüsslich verspeist.«
Sie ließ die Gabel mit der Muschel in den Teller zurücksinken.
Weller kam sich plötzlich irgendwie schuldig vor, als hätte er den Muscheln etwas angetan, wofür er sich jetzt entschuldigen müsste. Ohne zu kauen, schluckte er den Bissen, den er im Mund hatte, hinunter. Dann legte er seine Hand auf ihre Hand und versprach: »Wir kommen da wieder raus, Ann. Es ist eine Krise. Eine schlimme und tiefe Krise. Aber wir schaffen das. Notfalls bleibt uns ja immer noch die Fischbude in Norddeich.«
Sie schüttelte den Kopf, und er begriff, dass sie sich gar keine Sorgen um ihre berufliche Zukunft machte, sondern ihr ging nicht aus dem Kopf, was Meuling über ihren Vater gesagt hatte. Erst jetzt erzählte sie es Weller.
Er hatte immer noch Hunger, aber er wusste, dass es falsch war, jetzt weiter zu essen. Er ließ das schöne Muschelfleisch kalt werden, und um überhaupt irgendetwas zu tun, stand er auf und machte zwei starke Espressi. Mit dem Rücken zu ihr, die kleinen Tässchen in der Hand, fragte Weller: »Und du glaubst ihm?«
»Nein, verdammt!«, schrie sie. »Natürlich nicht!« Aber etwas in ihrer Stimme verriet ihm, dass sie zweifelte.
Um 15 Uhr am darauf folgenden Tag war Dieter Meuling offiziell wieder ein freier Mann. Alles kehrte sich jetzt gegen Ann Kathrin Klaasen. Plötzlich gab es sogar berechtigte Zweifel daran, dass Mareike Henning wirklich jemals in dem VW -Bus gesessen hatte. Unverhohlen sprach Meulings Anwältin davon, die Indizien seien ihrem Mandanten von Ann Kathrin Klaasen
untergeschoben worden. Selbst die fünfzigtausend Euro, die Ann Kathrin überwiesen hatte, wurden jetzt als Argument gegen sie benutzt. Angeblich war es Ann Kathrin Klaasens Versuch, Meulings Anwältin zu bestechen, um Meuling zu einem Geständnis zu bringen.
Weller las Ann Kathrin das alles mit stockender Stimme vor. Der Albtraum wurde immer schlimmer. Sogar ein psychologisches
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